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Julia Bosson

Über Lowry Presslys „The Right to Oblivion“

Bild: Harvard University Press

WAS IST DIE PRIVATSPHÄRE WERT?

Das ist die zentrale Frage der Aufmerksamkeitsökonomie. Privatsphäre wird oft verstanden als Informationsschutz oder -begrenzung, so wird sie als Ware gehandelt auf einem Marktplatz, vom dem wir uns nicht erinnern können, uns aus freien Stücken zu seinem Teilnehmer erklärt zu haben. Wenn es zuträfe, dass wir immer dann mit unserer Privatsphäre zu tun haben, wenn wir Häkchen unter einer Cookie-Erklärung setzen, wäre es nicht falsch, Privatsphäre als Konzept an sich für eine vergebliche Angelegenheit zu halten.

In seinem Buch The Right to Oblivion hält Lowry Pressly eine verblüffend geistreiche Verteidigungsrede für die Privatsphäre und ihre Bedeutung außerhalb eines rechtlich abgesteckten Rahmens. Privatsphäre schützt (und erzeugt) das, was Pressly den Zustand des „Vergessens“ nennt, oder „eine Form des Unwissens, die dem Ausdruck und der Entdeckung prinzipiell widersteht“. Mit anderen Worten, die unaussprechliche, widersprüchliche Vielheit, die jeder:m Einzelner:m von uns in sich birgt.

Wenn ich die Arbeit an diesem Text unterbreche und zu meinem Telefon greife, was ich schon ein gutes Dutzend Mal getan habe, sowohl absichtsvoll und nicht nur, gebe ich ein Stück meiner Privatsphäre auf – nicht nur die Informationen, die mein Telefon über mich sammelt, seien es die Sekunden, die mein Finger über einem Katzenvideo auf Instagram schwebt oder welche Nachrichtenmedien ich am liebsten besuche, sondern: die Privatsphäre der Einsamkeit. Ein gefavter Post, eine gelesene Nachricht ein „Zuletzt gesehen“-Status erfordern eine Aufmerksamkeit, eine Form der Öffentlichkeit, die dem Zustand des Vergessens im Wege steht.

Das Selbst, so Pressly, ist von dialektischer Art, es konstituiert sich zwischen Erinnerung und Vergessen, dem, was gesichert vergangen ist und der ungewissen Möglichkeiten in jeder:m von uns. Es ist dieses fundamentale Nicht-Wissen-Können, das die Voraussetzung zur Veränderung bildet, zur Überraschung und, paradoxerweise, dazu, dass wir einander vertrauen können.

Pressly ist alles Messianische, Katastrophische fremd – ebenso wie jeder übertriebene Zynismus. Seine Argumentation ist, ganz im Gegenteil, geradezu inspirierend, was ein so aus der Zeit gefallenes Kompliment ist, dass es geharnischt zu sein scheint, so dass ich fürchte, dass es das beabsichtigte Lob schmälert.

Vergessen ist der Zustand, der Veränderung ermöglicht; es ist der Ort, an dem wir Entwurfsfassungen unseres Selbst erproben; wo der Teil von uns wohnt, der sich widersetzt, zu Datenströmen transformiert zu werden; es ist die Form, mit der wir unseren Sinn für Freiheit und Möglichkeit schützen. Das klingt doch nach einer These, die unsere Aufmerksamkeit verdient.

Julia Bosson ist Chefredakteurin des Online-Magazins the Diasporist.

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