Ist die Erinnerung an den Holocaust vorbei?

A. Dirk Moses

Wie Deutschlands politische und mediale Eliten die historischen Lehren ausgehöhlt haben

Akademisches Forum, Juni 1979 © Bundesarchiv

Anmerkung der Redaktion: Der folgende Text geht auf einen Vortrag zurück, der im Rahmen von “Der grosse Kanton: Rise & Fall of the BRD” am 5. und 6. Dezember in Zürich gehalten wurde. Er wurde in einem Panel präsentiert, das den Ort deutscher Kulturinstitutionen im globalen Kontext untersuchte.

1970 VERÖFFENTLICHTE DER FRANZÖSISCHE HISTORIKER François Furet in der Fachzeitschrift Annales einen Artikel mit dem Titel „Der revolutionäre Katechismus“, in dem er Sozialhistoriker:innen dafür kritisierte, dass sie, anstatt nach der historischen Wahrheit zu suchen, sozialistische Ideale verteidigten. 1978 veröffentlichte er Penser la Révolution française, in dem er verkündete, dass die Französische Revolution vorbei sei. Vorbei, weil ihre Erinnerung politisch instrumentalisiert worden und weil ihre Ideale nun Teil des französischen Konsenses seien.

Ich sehe Anzeichen dafür, dass wir aus eben diesen beiden Gründen in der Erinnerung an den Holocaust vor demselben Punkt stehen. Erstens wurde diese Erinnerung nach Ansicht von Millionen von Deutschen instrumentalisiert, um eine spezifische Staatsräson zu rechtfertigen: Deutschlands uneingeschränkte Unterstützung für Israel. Und zweitens ist das Ideal, Völkermordkriege zu verhindern, Teil des öffentlichen Bewusstseins und seines moralischen Gefüges geworden: In diesem Sinne war die Erinnerung an den Holocaust erfolgreich. Für die genannten Deutschen hat die Berufung auf den Holocaust zur Rechtfertigung des israelischen Feldzugs im Gazastreifen, den sie als Völkermordkrieg verstehen, zu einer Vertrauenskrise in die offizielle Holocaustgedenkkultur in Deutschland und im Westen geführt. Für sie hat die Erinnerung an den Holocaust nicht ausgedient oder ihr Verfallsdatum überschritten – sie wurde von der deutschen Politik bis zum Umfallen missbraucht.

Was meine ich mit dem langsamen Tod der Erinnerung an den Holocaust? Ich beobachte in vielen Medien, dass die jüngere Generation derart schockiert ist von Israels völkermorderischer Kriegsführung in Gaza, von der Unterstützung westlicher Staaten und von der parteiischen Unterstützung von Teilen ihrer Medien für das Gemetzel, dass sie zu dem Schluss gekommen ist, dass dieser Krieg und nicht der Holocaust das absolute Böse unserer Zeit darstellt. Darüber hinaus beobachten sie, dass dieses Übel mit einem elitären Verständnis der Erinnerung an den Holocaust als „nie wieder Völkermord an den Juden“ im Besonderen und nicht an Menschen im Allgemeinen gerechtfertigt wird. Mit anderen Worten: Sie argumentieren, dass die Erinnerung an den Holocaust, die das Schlimmste verhindern sollte, dazu benutzt wird, das Schlimmste zu motivieren und zu rechtfertigen. Und sie fühlen sich empört und betrogen.

Da sie diesen Journalist:innen und Politiker:innen nicht vertrauen, haben jüngere Menschen ihre eigenen Informationsquellen in den sozialen Medien gefunden, wo sie sich die Gräueltaten ansehen können, die von palästinensischen Journalist:innen live übertragen werden, bis sie getötet werden.

„Die Wand der Kinderleichen“ gegen die man erst sprechen müsse, wie es Sarah Hurwitz, die ehemalige Redenschreiberin von Obama, kürzlich formulierte, haben verständlicherweise zu starken Emotionen geführt, die sich in Slogans und Sprechchören bei Demonstrationen äußerten und die empfindlichen Gefühle deutscher Journalist:innen und Politiker:innen verletzt haben. Da sie diesen Journalist:innen und Politiker:innen nicht vertrauen, haben jüngere Menschen ihre eigenen Informationsquellen in den sozialen Medien gefunden, wo sie sich die Gräueltaten ansehen können, die von palästinensischen Journalist:innen live übertragen werden, bis sie getötet werden. Und durch Videos, die von israelischen Soldat:innen gedreht wurden, in denen sie sich über die Zerstörung freuen oder in der Unterwäsche palästinensischer Frauen tanzen, die sie in den zerstörten, von ihnen geplünderten Wohnungen gefunden haben. Bezeichnenderweise führte der Tod der palästinenschen Journalist:innen nicht zu der breiten, öffentlichen Solidarisierung, die wir schließlich bei Diffamierungskampagnen gegen die deutsche Journalistin Sophie von der Tann erleben. Die Menschen erkennen Doppelmoral und reagieren entsprechend.

Anstatt sich jedoch der Tatsache zu stellen, dass die deutsche und westliche Öffentlichkeit ihre Abscheu gegenüber dem Sterben und der Zerstörung in Gaza zum Ausdruck bringt, haben die politischen Klassen entschieden, dass das Medium und nicht die Botschaft das Problem ist. Die sozialen Medien sind schuld, heißt es. Weil China und Katar den Algorithmus von TikTok kontrollieren, sehen Teenager „eine Wand der Kinderleichen“. Ihre Lösung besteht darin, die Eigentumsverhältnisse von TikTok zu ändern, damit stattdessen pro-israelische Botschaften ihre Telefone überschwemmen.

Die politische und mediale Klasse hat Grund zur Sorge. Wäre nicht eine unabhängige Journalistin in Amsterdam gewesen, die mit ihrem Handy filmte, wie israelische Fußballfans gegen niederländische Bürger randalierten, hätten wir uns mit der Lüge der Mainstream-Medien abfinden müssen, dass ein „Pogrom“ gegen die israelischen Fans in Amsterdam geschehen ist, verübt von den Opfern eben dieser Fußballfans. Erst als diese Journalistin ihr Filmmaterial online stellte, sahen sich die Mainstream-Sender gezwungen, ihre Berichterstattung zu korrigieren.

Im selben Atemzug jedoch bringen westliche Regierungen und Medien Rechtfertigungen vor und greifen direkt zu Verharmlosung. Können sie sich über die wissenschaftlich belegte Vertrauenskrise in die Medien und darüber wundern, dass sich die Menschen alternativen Quellen und politischen Parteien zuwenden? 

Alles, was uns von der von George Orwell vorhergesagten Welt trennt, sind unabhängige Informationsquellen und der gesunde Instinkt einer Öffentlichkeit, die eine universelle Lehre aus der Nazi-Vergangenheit gezogen hat, nämlich, dass die fast vollständige Zerstörung einer Region wie Gaza illegitim, kriminell und inakzeptabel ist: selbst angesichts des abscheulichen Angriffs der Hamas auf israelische Siedlungen vor über zwei Jahren.

Der genozidale Feldzug Israels gegen den Aufstand, sein Streben nach dauerhafter Sicherheit durch die Tötung einer ausreichenden Anzahl von Palästinenser:innen und die Schaffung von Bedingungen, sie teilweise zu vernichten, damit sie zur Selbstdeportation veranlasst werden – ein Ziel, das von führenden israelischen Minister:innen und Medienpersönlichkeiten offen und kontinuierlich verkündet wird –, wird heute von einer großen Zahl von Menschen als das absolut Böse verstanden, und sie verwenden unabhängig von rechtlichen Formalitäten den Begriff Völkermord.

Im selben Atemzug jedoch bringen westliche Regierungen und Medien Rechtfertigungen vor und greifen direkt zu Verharmlosung. Können sie sich über die wissenschaftlich belegte Vertrauenskrise in die Medien und darüber wundern, dass sich die Menschen alternativen Quellen und politischen Parteien zuwenden? 

Die Logik der Nachkriegsordnung, die auf ethnischen Säuberungen und der Akzeptanz von genozidaler Kriegsführung (im Gegensatz zu einer sehr engen und fast unmöglich zu beweisenden Definition von Völkermord) beruht, wurde offensichtlich, und die Weltöffentlichkeit lehnt sie ab.

Wenn jemand die Glaubwürdigkeit der Erinnerung an den Holocaust getötet hat, dann sind es die politischen Klassen des Westens, die diese Erinnerung zur Rechtfertigung eines unbestreitbaren Übels missbraucht haben.

Es bereitet mir keine Freude, dieses Ergebnis in verschiedenen Publikationen vorhergesagt zu haben. Schon vor Jahren war offensichtlich, dass die Erinnerung an den Holocaust und damit verbundene Antisemitismusvorwürfe dazu benutzt wurden, Gegner mit universalistischem statt partikularem Anspruch zum Schweigen zu bringen. Dies gipfelte in der Absurdität, dass der israelische Botschafter den israelischen Philosophen Omri Boehm wegen Antisemitismus anprangerte, weil er sich für ein binationales Staatswesen in seinem Heimatland einsetzt, in dem alle gleiche Rechte genießen. 

Die Erinnerungslogik der Nachkriegsordnung – nie wieder Völkermord und nie wieder Antisemitismus – hat jetzt ihren Höhepunkt in einer paranoiden Suche nach denen gefunden, die dem ethnonationalen Fundamentalismus untreu sind. Und die Öffentlichkeit kommt zu dem Schluss, dass die damit verbundene Erinnerungskultur, die auferlegt und nicht aus Versteh- und Lernprozessen heraus natürlich gewachsen ist, und ihr Imperativ „Nie wieder ist jetzt“ diskreditiert worden sind – und zwar durch ihre Einbindung in eine genozidale Militäroperation und eine Hexenjagd gegen diejenigen, die sich ihr und ihrer Unterstützung durch deutsches Regierungshandeln widersetzen. Wenn jemand die Glaubwürdigkeit der Erinnerung an den Holocaust getötet hat, dann sind es die politischen Klassen des Westens, die diese Erinnerung zur Rechtfertigung eines unbestreitbaren Übels missbraucht haben. In einem Vortrag am Fritz-Bauer-Institut am 17. Dezember 2025 unter dem Titel „Der Gazakrieg. Wie das Shoah-Erinnerungskapital verspielt wird“ kam der israelische Historiker Moshe Zimmermann zu einem sehr ähnlichen Schluss.

Ich bedaure diesen allmählich einsetzenden Tod der Erinnerung an den Holocaust in der deutschen und westlichen Öffentlichkeit. Ich denke, die Deutschen sollten niemals vergessen, was ihre Vorfahren den Juden, Roma, Slawen und anderen Völkern sowie Queers, Kommunisten und Widerstandskämpfern während des Nazi-Regimes angetan haben.

Ich bedaure diesen allmählich einsetzenden Tod der Erinnerung an den Holocaust in der deutschen und westlichen Öffentlichkeit. Ich denke, die Deutschen sollten niemals vergessen, was ihre Vorfahren den Juden, Roma, Slawen und anderen Völkern sowie Queers, Kommunisten und Widerstandskämpfern während des Nazi-Regimes angetan haben. Ebenso wenig sollten andere Europäer vergessen, die mit den Deutschen zusammengearbeitet haben, um ihre Länder von unerwünschten Minderheiten zu „befreien“. Mein Anliegen war es, die Erinnerung an den Holocaust lebendig und relevant zu halten, indem ich den Holocaust ohne Gleichsetzung mit der massiven staatlichen Gewalt gegen Zivilisten in Verbindung brachte, die ihm vorausging und die die Nazis inspirierte, wie beispielsweise der Völkermord an den Herero und Nama in Deutsch-Südwestafrika und den an den Armeniern vor und während des Ersten Weltkriegs.

Damit umzugehen, fiel einigen deutschen Journalisten schwer. Peter Neumann schrieb in Die Zeit in seinem Bericht über die Konferenz, an dem ich eine frühere Fassung dieses Vortrags gehalten habe, ich hätte den Tod des Holocaust-Gedenkens begrüßt. Kurz nach Erscheinen des Artikels sah sich das Medium gezwungen, eine Richtigstellung zu veröffentlichen:


„Anmerkung der Redaktion: In einer frühen Version des Textes stand, dass Dirk Moses ‚nicht sonderlich betrübt über den Anfang vom Ende der Erinnerung an die Schoah‘ gewesen sei, obwohl er dies in seiner Rede ausdrücklich bedauerte. Wir haben diesen Fehler korrigiert.”

Es sind Vorkommnisse wie diese, die ganz gewöhnliche Menschen dazu bringen, den Medien zu misstrauen. Die allgemeine Bevölkerung ist der Meinung, dass ein dauerhaftes und ethisch vertretbares Erinnerungsregime alle Opfer von staatlicher Gewalt und Terror anerkennen muss, die auf dystopische Sicherheitsvorstellungen abzielen. Wenn Politiker:innen und Medien das Vertrauen dieser Bevölkerung in sie wiederherstellen wollen, sollten sie damit beginnen, deren im Universalismus begründete Überzeugungen zu respektieren.

A. Dirk Moses ist Anne- und Bernard-Spitzer-Professor für Internationale Beziehungen am CCNY, Herausgeber des Journal of Genocide Research und Autor des Buches The Problems of Genocide: Permanent Security and the Language of Transgression.

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