Für einen nicht-karzeralen Anti-Antisemitismus

Yael Attia

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Emily Dische-Becker

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Daniel Loick

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Anthony Obst

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Vanessa E. Thompson

Warum repressive Maßnahmen im Kampf gegen Antisemitismus versagen – und welche Strategien besser funktionieren

Ground View of the New Prison in Philadelphia, from Annual Report of the Board of Managers of the Prison Discipline Society (1827). Accessed viapdimagearchive.org

Editors’ Note: „Bildung schützt nicht vor Antisemitismus, das sollte spätestens jetzt klar sein“, sagte Felix Klein Anfang März in einem Interview. Der Antisemitismusbeauftragte der Bundesregierung fordert härtere Strafen für vermeintlich antisemitische Vorfälle sowie den Einsatz von Sicherheitsbehörden wie dem Verfassungsschutz an Universitäten. Ferner sollten Aussagen wie „From the River to the Sea“ unter Strafe gestellt werden: „Mit Prävention allein kommen wir dem grassierenden Antisemitismus nicht bei.“

Kleins Aussagen folgen auf zwei umstrittene, nicht rechtsverbindliche Antisemitismus-Resolutionen des Bundestags, die strengere Disziplinarverfahren für Verstoße gegen eben diese Resolution anregen (bis hin zu Abschiebungen und Aufhebung des Asylstatus) und die Linie zwischen Antisemitismus und Kritik an der Politik Israels verwischen. Im selben Interview führt Klein weiter aus, dass Menschen, die nach Deutschland kommen, verstehen sollten, dass sie die Erinnerungskultur des Landes übernehmen und dadurch auch eine Verantwortung für Israel innehätten – auch wenn sie selber von Rassismus und Diskriminierung betroffen sind. Wie Achan Malonda jüngst für the Diasporist schrieb: In Deutschland reagiert man auf Gewalt gegen rassifizierte und migrantisierte Personen mit noch mehr Gewalt.

In diesem Beitrag zeigen unsere Autor:innen auf, welche Risiken mit solch strafenden Reaktionen auf Antisemitismus verbunden sind. Mithilfe von feministischer Theorie, eingerahmt in sozialer Gerechtigkeit und „carceral studies“ wird untersucht, mit welchen Mitteln Antisemitismus in Deutschland bekämpft wird und stellen dabei infrage, dass polizeiliche Überwachung, Zensur und migrationsfeindliche Politik zu mehr Sicherheit für Jüd:innen führt. Wir laden Sie auf the Diasporist dazu ein, auf die Ideen dieser Intervention einzugehen, insbesondere mit konstruktivem Widerspruch. Schreiben Sie uns: [email protected]


Im Folgenden versuchen wir zu beschreiben, was an der Art, wie nationale und lokale Regierungen, aber auch viele politische Kollektive in Deutschland, das Problem des Antisemitismus angehen, falsch ist. Wir sind uns des explorativen und daher vorläufigen Charakters unserer Überlegungen bewusst, die wir als eine offene Einladung zum kollektiven Experimentieren verstehen. Wir erkennen an, dass die von uns unterbreiteten Vorschläge mit der Analyse und der Arbeit im Dialog stehen, die von vielen Gruppen bereits geleistet wird und dass sie Teil der bereits gelebten Praxis vieler (jüdischer und nicht-jüdischer) Communities sind. Dieser Text ist unser Versuch, diesen Praktiken mehr Aufmerksamkeit zu verschaffen und diese laufenden Kämpfe zu unterstützen. Wir rufen alle progressiven sozialen Bewegungen auf, von diesen Analysen und Praktiken zu lernen und weitere Strategien zu entwickeln, die sowohl Antisemitismus als auch rassistische staatliche Gewalt als Teile eines gemeinsamen Kampfes gegen Faschismus adressieren.

Karzeraler Anti-Antisemitismus in Deutschland

Im November 2024 verabschiedete der Deutsche Bundestag die Resolution „Nie wieder ist jetzt – Jüdisches Leben in Deutschland schützen, bewahren und stärken“. Angesichts der Berichterstattung über weltweit und auch hierzulande zunehmenden Antisemitismus sind sicherlich konkrete Maßnahmen erforderlich, um die Sicherheit und das Wohlergehen von Jüd:innen und jüdischen Communities zu gewährleisten.

Allerdings fallen fast alle der konkreten Schritte, die in der Resolution beschlossen wurden, unter die Rubrik, die wir „karzeralen Anti-Antisemitismus“ nennen. Diese Strategie trägt unserer Überzeugung nach nicht nur nicht dazu bei, „jüdisches Leben zu schützen, zu bewahren und zu stärken“ – im Gegenteil setzt sie marginalisierte und rassifizierte Gruppen, einschließlich Jüd:innen, sogar noch größeren Gefahren aus, indem sie gewaltförmige staatliche Maßnahmen intensiviert. 

Wie viele jüdische Organisationen weltweit angemerkt haben, besteht das erste Problem der Resolution und ähnlicher Maßnahmen (wie beispielsweise auch dem kürzlich beschlossenen „Antrag zu Antisemitismus an Hochschulen und Schulen“) bereits in der Frage, wie man Antisemitismus definiert. Das liegt zum Teil an einer umstrittenen Definition, die nach Ansicht von Kritiker:innen mehr Missverständnisse hervorruft als zu beseitigen. Die IHRA-Arbeitsdefinition von Antisemitismus, die derzeit nicht nur vom Bundestag, sondern auch von anderen staatlichen Akteuren wie Verwaltungen und Ministerien sowie Bildungs- und Sozialeinrichtungen verwendet wird, ist zu weit gefasst, während die aufgeführten, sehr spezifischen Beispiele häufig als politisches Instrument verwendet werden, um Kritik an der Politik der israelischen Regierung mit Antisemitismus gleichzusetzen. Obwohl die IHRA-Arbeitsdefinition von Antisemitismus nie als Vorlage für ein Gesetz oder als Vollstreckungsmittel gedacht war, dient sie nun als Grundlage für schwerwiegende und gefährliche staatliche Maßnahmen, die oft Strafcharakter annehmen.

Dieser disziplinarische Anti-Antisemitismus folgt einer Logik, in der jegliche Analyse der Ursachen und Zusammenhänge, die hinter unterschiedlichsten Fällen von wütenden, unvernünftigen, ignoranten oder übertriebenen Äußerungen stecken könnten, kriminalisiert oder skandalisiert werden.

Das größte Problem liegt jedoch in der Art der Maßnahmen, die angewendet werden sollen, um Vorfälle von tatsächlichem oder vermeintlichem Antisemitismus zu bekämpfen. Die Resolution des Bundestages führt nicht nur den Entzug von Fördermitteln für Forschung und kulturelle Veranstaltungen auf, sondern fordert auch, „repressive Möglichkeiten konsequent auszuschöpfen…in besonderem Maße im Strafrecht sowie im Aufenthalts-, Asyl- und Staatsangehörigkeitsrecht, um eine möglichst wirksame Bekämpfung von Antisemitismus zu gewährleisten.“ Das ist ein Paradebeispiel für staatliche Strategien, die man als karzeral beschreiben kann. Dieser Begriff bezieht sich nicht nur auf staatliche Gewalt im spezifischen Sinne von Polizei, Gefängnissen und Grenzregimen, sondern auch auf Bestrafungs- oder Überwachungsmaßnahmen, die auch von Akteur:innen und Institutionen im Auftrag oder anstelle des Staates durchgeführt werden können. Diese Strategien werden auch von Institutionen angewandt, die normalerweise als „weniger schädlich“ gelten, die aber dennoch Disziplinarlogiken folgen, etwa von sozialstaatlichen Programmen oder in der sozialen Arbeit. Da sie überproportional rassifizierte und proletarische Communities treffen, verstärken karzerale Maßnahmen auch staatlichen Rassismus. Diese Maßnahmen werden zurzeit in einem politischen Klima betrieben, in dem Ängste vor Antisemitismus gleichzeitig mit verschiedenen Formen des Rassismus ansteigen – insbesondere des Rassismus gegen arabische, muslimische und palästinensische Communities.

Dieser disziplinarische Anti-Antisemitismus folgt einer Logik, in der jegliche Analyse der Ursachen und Zusammenhänge, die hinter unterschiedlichsten Fällen von wütenden, unvernünftigen, ignoranten oder übertriebenen Äußerungen stecken könnten, kriminalisiert oder skandalisiert werden. Statt sie zu kontextualisieren, fasst diese Logik solche Meinungsäußerungen unter einer verallgemeinerten Kategorie des Judenhasses zusammen. Die Mittel des karzeralen Anti-Antisemitismus sind mannigfaltig: Polizeigewalt gegen Demonstrant:innen; die Kriminalisierung politischer Slogans, deren Bedeutung umstritten sind; die Kriminalisierung von Kindern, die in Schulen palästinensische Symbole tragen; der Entzug von Förderung; Kündigungen von Arbeitsverhältnissen; die Absage von Vorträgen aufgrund von Antisemitismusvorwürfen; die Versicherheitlichung von Kultur- und Bildungsräumen; digitale Überwachung und Diffamierung; die Einführung von Klauseln, die darauf abzielen, kritische Stimmen in Institutionen unter dem Etikett „Extremismus“ zum Schweigen zu bringen; bis hin zu Grenz- und Migrationsregimen, die auch Reformen von Einbürgerungsprozessen und des Abschiebeapparats umfassen. Der Bundestagsbeschluss bietet den Rahmen für die systematische Umsetzung genau solcher disziplinarischer Maßnahmen.

Die karzerale Wende – eine Einordnung

Nachdem der deutsche Staat Antisemitismus jahrzehntelang weitgehend vernachlässigte, begann er Ende der 2010er Jahre, Ressourcen für die Bekämpfung von Antisemitismus aufzuwenden, angefangen mit der Gründung des Amtes eines Beauftragten der Bundesregierung „für jüdisches Leben in Deutschland und den Kampf gegen Antisemitismus.“ Dieser Prozess fiel zum einen mit Demonstrationen im Jahr 2017 in Berlin gegen die Entscheidung Donald Trumps, Jerusalem als Hauptstadt Israels anzuerkennen, zusammen, bei denen Berichte über massenhafte antisemitische Sprechchöre trotz mangelnder Belege von zahlreichen Medien verbreitet wurden, welche somit die politischen Proteste in diesem Kontext pauschal als antisemitisch darstellten. Zum anderen fiel der Prozess auch mit internationalen Bemühungen des israelischen Staates und seiner Verbündeten zusammen, Opposition gegen Israel als antisemitisch umzudeuten, indem sie die IHRA-Arbeitsdefinition von Antisemitismus forcierten. Der Berufung eines Bundesbeauftragten folgte bald die Ernennung von Antisemitismusbeauftragten auf Landes- und Kommunalebene sowie ein Boom freier Träger: staatlich finanzierte Organisationen, deren Aufgabe ursprünglich die Bekämpfung von Antisemitismus, Rassismus und Xenophobie war, die aber zunehmend den Kampf gegen Antisemitismus von anderen Formen des Rassismus, Intoleranz und Diskriminierung trennten.

Mit dem Bundestagsbeschlusses im Jahr 2019, der die Methoden und Argumentationsstrukturen der BDS-Bewegung als antisemitisch einstuft, ist der Kampf gegen Antisemitismus zunehmend auf die Sanktionierung israelkritischer Meinungen reduziert worden (im November 2024 bekräftigte der Bundestag diese Interpretation mit einer weiteren Resolution). Gegen „Antisemiten mit geschlossenem, verfestigtem Weltbild“ helfe nur Repression, sagte der Berliner Antisemitismusbeauftragte Samuel Salzborn im Mai 2021, nachdem es bei einer Demonstration gegen Räumungen im palästinensischen Viertel Sheikh Jarrah in Ostjerusalem zu antisemitischen Sprechchören gekommen war – ohne zu erwähnen, dass sich andere Demonstrant:innen hiervon klar distanziert hatten.

Der karzerale „turn“ im Kampf gegen Antisemitismus ist ein Widerhall des „carceral feminism“ (karzeralem Feminismus) – einem Begriff, der in der abolitionistischen Theorie und Praxis verwendet wird, um die Allianz zwischen feministischen Bewegungen mit dem Staat und seinen Strafjustizsystemen zu kritisieren.

Um besser zu verstehen, warum eine solche Logik des Bestrafens schädlich ist, ist es hilfreich, sich ein anderes Feld vor Augen zu führen, in dem karzerale Strategien zum Einsatz kommen:  disziplinarische Antworten auf sexualisierte und geschlechtsspezifische Gewalt. Der karzerale „turn“ im Kampf gegen Antisemitismus ist ein Widerhall des „carceral feminism“ (karzeralem Feminismus) – einem Begriff, der in der abolitionistischen Theorie und Praxis verwendet wird, um die Allianz zwischen feministischen Bewegungen mit dem Staat und seinen Strafjustizsystemen zu kritisieren. Ebenso tritt der carceral feminism im Kontext einer Neoliberalisierung auf, die Karzeralität als eines ihrer wichtigsten Instrumente mobilisiert. Vor dem Hintergrund einer generell zu beobachtenden Verschiebung von Ansätzen sozialer Gerechtigkeit hin zu staatlicher Kontrolle und Strafe, sind feministische Bewegungen immer mehr dazu übergegangen, für härtere Strafen für geschlechtsspezifische und sexualisierte Gewalt einzutreten und sich so mit dem neoliberalen karzeralen Staat zu verbünden.

Insbesondere radikale Feminist:innen of Color haben auf die vielfältigen problematischen Folgen des karzeralen Feminismus hingewiesen: 1. Er führt zu einer Verschleierung der (hetero-) patriarchalen Strukturen innerhalb des Staates, 2. er fokussiert auf die Bestrafung von Täter:innen und vernachlässigt die Bedürfnisse von Menschen, die geschlechtsspezifischer Gewalt ausgesetzt sind; 3. er trägt dazu bei, dass Feminismus gegen rassifizierte proletarische Bevölkerungsgruppen ausgespielt wird; 4. mehrfach marginalisierte, gender-nonkonforme Personen, die sowohl geschlechtsspezifische Gewalt als auch staatliche Gewalt in ihren Communities oder auf zwischenmenschlicher Ebene erfahren – illegalisierte Migrant:innen oder rassifizierte Frauen und Queers etwa – sind nicht nur vom Schutz des Staates ausgeschlossen, sie können vielmehr selbst Opfer der Gewalt eines Staates werden, der vorgibt, Frauen und gender-nonkonforme Menschen zu schützen. 

Der karzerale Anti-Antisemitismus führt zu ähnlichen, wenn auch spezifischen Problemen. Auf den ersten Blick mag eine verstärkte Aufmerksamkeit für antisemitische Ideologien und eine deutlichere Sanktionierung antisemitischer Angriffe als wünschenswert erscheinen. Der Rückgriff auf staatliche Maßnahmen zur Bekämpfung von Antisemitismus bedeutet jedoch, sich die repressiven, spaltenden und rassifizierenden Logiken zu eigen zu machen, die karzeralen Mechanismen innewohnen. Das kann dazu führen, dass Gefahren für Jüd:innen nicht abnehmen, sondern zunehmen, etwa weil diese Maßnahmen auch linke Jüd:innen kriminalisieren oder weil sich die Sorge um die Sicherheit von Jüd:innen in Institutionen verlagert, die Nationalismus und Autoritarismus schüren. Deshalb sind karzerale Maßnahmen gleichermaßen eine Gefahr für Jüd:innen wie für andere marginalisierte Communities.

Was ist das Problem am karzeralen Anti-Antisemitismus

Karzerale Perspektiven gehen häufig mit einer Deartikulation des Antisemitismus der Mehrheitsgesellschaft einher. Wenn Kriminalisierung das wichtigste Mittel zur Bekämpfung des Problems ist, wird Antisemitismus als außerhalb der Normen einer Gesellschaft liegend konstruiert. Er wird damit von breiteren gesellschaftlichen Strukturen abgekoppelt und kann vorgeblich durch Isolation oder Ausgrenzung überwunden werden. Damit wird die (christliche, weiße) Mehrheitsgesellschaft entlastet, die sich zum Schiedsrichter eines Antisemitismus macht, der häufig durch rhetorische Konstruktionen wie die des „importierten Antisemitismus“ externalisiert wird. Infolgedessen müssen palästinensische Demonstrant:innen mit harten Konsequenzen rechnen, während etwa der Antisemitismus von Elon Musk oder die antisemitischen Pamphlete, die von Bayerns stellvertretendem Ministerpräsidenten Hubert Aiwanger stammen, folgenlos bleiben.

Gleichzeitig wissen wir spätestens seit der Aufdeckung rechtsextremer Chatgruppen in der Polizei, dass Polizist:innen oft selbst rechtsextreme Weltanschauungen haben.

Deutschlands Kampf gegen Antisemitismus hat sich auch vom Kampf gegen Rechtsextremismus und Neofaschismus entkoppelt. So verteidigte beispielsweise der Antisemitismusbeauftragte der Bundesregierung, Felix Klein, den ehemaligen Präsidenten des Verfassungsschutzes, H.G. Maaßen, gegen Antisemitismus-Vorwürfe, die Maaßen mit seinen völkisch-nationalistischen Äußerungen, „Globalisten“ würden die deutsche Gesellschaft untergraben, ausgelöst hatte. Elon Musk, der während der Amtseinführung des US-Präsidenten Trump einen Hitlergruß gezeigt hat, ist in Deutschland weiterhin ein gern gesehener Investor.

Doch auch die Gewaltmittel, die vor Antisemitismus schützen sollen, beherbergen und reproduzieren antisemitische Strukturen. Jüdische Institutionen in Deutschland stehen in der Regel unter Polizeischutz – und das aus gutem Grund: Wie der antisemitische Anschlag auf die Synagoge in Halle 2019 gezeigt hat, sind jüdische Gemeinden in Deutschland keineswegs sicher vor antisemitischem Terror. Gleichzeitig wissen wir spätestens seit der Aufdeckung rechtsextremer Chatgruppen in der Polizei, dass Polizist:innen oft selbst rechtsextreme Weltanschauungen haben. Im Jahr 2023 veröffentlichten das ZDF Magazin Royale und die Initiative FragDenStaat die Inhalte einer WhatsApp-Gruppe, der über 100 Frankfurter Polizist:innen angehörten. In den Chats finden sich zutiefst rassistische und antisemitische Inhalte, darunter Verherrlichungen Hitlers, Bilder von Hakenkreuzen und Nachrichten, die Opfer des Holocausts verhöhnen. 2021 wurde bekannt, dass Spezialeinheiten, die einer anderen rechtsextremen Chatgruppe angehörten, während des Terroranschlags in Hanau im Jahr 2020 im Einsatz gewesen sind – wo die Polizei für ihre Verschleppung der Festnahme des Täters kritisiert wurde. Diese Verbindung von Polizei und Antisemitismus ist nicht zufällig, sondern strukturell veranlagt: Die Polizei, eine Institution zur Durchsetzung des staatlichen Gewaltmonopols und Verteidigung der kapitalistischen Eigentumsordnung, ist ein von hierarchischen Strukturen, Maskulinismus und Korpsgeist geprägtes Milieu, in dem autoritäre, intolerante und verschwörungstheoretische Gesinnungen gedeihen.

Dazu kommt, dass Disziplinarmaßnahmen verschiedene Gruppen, die von Rassismus und Marginalisierung betroffen sind, gegeneinander ausspielen. Angeblich schützen solche Maßnahmen eine Gruppe, gefährden dabei aber andere. Wenn beispielsweise die Polizei zum Schutz einer jüdischen Veranstaltung eingesetzt wird, besteht für rassifizierte Menschen stets die Gefahr von Racial Profiling, Demütigungen oder körperlichen Übergriffen. Wenn die Polizei Palästina-solidarische Proteste im Namen des Schutzes von Jüd:innen unterdrückt, trägt sie zur falschen Konstruktion von Unterschieden zwischen sozialen Gruppen bei, die in Wahrheit weder unveränderlich noch homogen sind. Diese Konstruktion und Durchsetzung von Unterschieden ist hierarchisch strukturiert, was den Eindruck erzeugen kann, als ob Jüd:innen vom Staat und seinen Institutionen bevorzugt würden. Das blendet die gemeinsame Basis für eine gegenseitige Solidarität gegen Rechtsextremismus und strukturelle Gewalt aus und untergräbt so Möglichkeiten zur Bildung von Allianzen auf der Grundlage gemeinsamer Erfahrungen von Unterdrückung und Ausgrenzung.

In Deutschland verdeutlichen politische und mediale Debatten, in denen Antisemitismus als „importiertes“ Phänomen dargestellt wird, diese Spaltungsstrategie und dienen als Rechtfertigung für die Durchsetzung einer migrationsfeindlichen Politik. Wenn beispielsweise Bundeskanzler Olaf Scholz in der einen Woche auf der Titelseite des Spiegels zu Abschiebungen „im großen Stil“ aufruft, wird diese anti-migrantische Rhetorik in der nächsten Woche durch eine andere Titelseite legitimiert, auf der verkündet wird, dass Jüd:innen in Deutschland Angst haben – neben einer Geschichte, die das rassistische Narrativ der „Clankriminalität“ aufrechterhält. Mediennarrative wie diese instrumentalisieren die Ängste von Jüd:innen, um Rassismus zu schüren, der im sozialen und politischen Leben Deutschlands allgegenwärtig ist.

Seitdem „Zuwanderungskontrolle“ über Parteigrenzen hinweg zur Priorität geworden ist, haben Politiker:innen Antisemitismusanschuldigungen als wirksames Werkzeug identifiziert, das ihren rassistischen Politiken moralische Autorität verleiht. 

Derartige Instrumentalisierungen, um migrationsfeindliche Rhetorik und Politik zu legitimieren – wie beispielsweise die Bemühungen der CDU, die deutsche Staatsbürgerschaft an ein Bekenntnis zum Staat Israels zu koppeln – müssen im größeren Kontext migrationsfeindlicher Politik in Deutschland und der EU verortet werden. In derselben Woche im Mai 2024, in der karzeraler Anti-Antisemitismus mit der Zerschlagung des Palästina-Kongresses durch die Berliner Polizei deutlich zu Tage trat, verbot die Bundesregierung Bargeldzahlungen an Geflüchtete, während auf europäischer Ebene die sogenannte GEAS-Reform das Recht auf Asyl aushöhlte. Diese Gleichzeitigkeit ist kein Zufall. Die jüngste Bundestagsresolution nennt ausdrücklich das Migrations- und Einbürgerungsrecht als Mittel, mit denen der angebliche Kampf gegen Antisemitismus geführt werden soll. Seitdem „Zuwanderungskontrolle“ über Parteigrenzen hinweg zur Priorität geworden ist, haben Politiker:innen Antisemitismusanschuldigungen als wirksames Werkzeug identifiziert, das ihren rassistischen Politiken moralische Autorität verleiht. 

Wie bereits angedeutet, bedroht der karzerale Anti-Antisemitismus auch die Sicherheit vieler Jüd:innen. Wie die Proteste und Solidaritätsaktionen der letzten Monate gezeigt haben, sind linke jüdische Aktivist:innen und Wissenschaftler:innen überproportional staatlicher Repression ausgesetzt, sei es in Form von direkter Polizeigewalt oder der Absage von Vorträgen oder Ausstellungen. Weitgehend unbemerkt von der Öffentlichkeit geht dieses Polizieren auch oft mit finanzieller Unsicherheit und beruflicher Prekarität einher und beraubt gezielt Betroffene ihrer Lebensgrundlagen und Diskursmöglichkeiten. Diese „Kollateralschäden“ des karzeralen Anti-Antisemitismus untergraben die Vielfalt des öffentlichen Lebens und politischer Einstellungen – jüdischer ebenso wie anderer.

Hinzu kommt, dass die Beschwörung staatlicher Gewalt für die Herstellung von Sicherheit die Abhängigkeit von einem externen Beschützer verstärkt. Die karzerale Perspektive ist auf den Staat als „schützende“ Instanz fixiert, aber auf der Basis, dass anderen Schutz und Fürsorge entzogen wird. Diese Abhängigkeit verhindert die Herausbildung eigenständiger Handlungsfähigkeit – einer Handlungsfähigkeit in Solidarität mit anderen marginalisierten Gruppen. In Deutschland und anderswo gibt es bereits verschiedene Initiativen, die sich in ihrem Organizing und der Bildung von Koalitionen alltäglich gegen karzerale Logiken wehren und wichtige Arbeit leisten. Einige dieser Arbeit werden wir im Folgenden kurz umreißen.

Wie sieht ein nicht-karzeraler Anti-Antisemitismus aus?

Zu sagen, dass karzerale Mittel nicht geeignet sind, Antisemitismus zu bekämpfen, bedeutet nicht, die Existenz von Antisemitismus zu leugnen oder verharmlosen. Antisemitismus ist Teil der gewaltvollen Realität in Deutschland: Antisemitische Ansichten und Affekte reichen vom Nationalsozialismus bis zum Postfaschismus, vom europäischen Christentum bis zur säkularen Aufklärung, von den rechtsextremen Rändern bis in die Mitte der Gesellschaft. Und so wie linke oder migrantische Communities nicht frei von anderen Formen gruppenbezogener rassistischer Stereotype sind, sind sie auch nicht frei von Antisemitismus.

Die Grundidee des nicht-karzeralen Anti-Antisemitismus lautet, nichtstaatliche, das heißt zivilgesellschaftliche Antworten zu entwickeln, statt auf staatliche Gewalt und Repression zu setzen. Eine solche Perspektive kann wichtige Impulse aus abolitionistischen feministischen Bewegungen aufgreifen. Ausgangspunkt ihrer Diskussionen, angeführt von Gruppen wie INCITE! (einer Gruppe von Feministinnen of Color) und Critical Resistance (eine Anti-Gefängnis-Organisation), war die Analyse, dass sich feministische Bewegungen zu sehr auf den Staat eingelassen und bei der Bekämpfung sexualisierter Gewalt vor allem auf Kriminalisierung gesetzt haben, was jedoch marginalisierte Communities noch stärkerer staatlicher Gewalt ausgesetzt und dabei nicht mehr Sicherheit geschaffen hat, insbesondere nicht für besonders vulnerable Frauen und queere Menschen. Andererseits hat die Anti-Gefängnis-Bewegung selbstkritisch eingeräumt, dass sie in der Vergangenheit keine guten Antworten auf Gewalt innerhalb ihrer eigenen Communities entwickelt hat, insbesondere in Bezug auf sexualisierte Gewalt, häusliche Gewalt und Partnerschafts-Gewalt. An dieser Schnittstelle setzen wir an, um sozialen Bewegungen, Communities und Initiativen dazu aufzufordern, Analysen und Aktionen gegen Antisemitismus und andere Formen von Rassismus zu entwickeln oder zu stärken, die nicht auf staatlicher Gewalt fußen.

Diese Art von politischer Arbeit kann nur auf einer Bündnispraxis mehrerer marginalisierter Gruppen gründen. Zu den Bausteinen einer solchen Arbeit gehören graswurzelbasierte Bildungsmaßnahmen, die eine vielversprechendere Strategie für solidarisches Lernen darstellen, als eine Disziplinierung der Communities nach den Vorstellungen des Staates zu erzwingen. Diese Formen der politischen Bildung können durchaus auch harte Auseinandersetzungen beinhalten. Communities sollten dazu befähigt werden, diese Konflikte auszutragen und aufzuarbeiten, indem sie gemeinsam Werkzeuge entwickeln und Wissen kultivieren. Als Teil eines solchen Prozesses sind nichtjüdische Mitglieder der Community dazu aufgerufen, sich mit ihrem eigenen Antisemitismus auseinanderzusetzen und Verantwortung in ihrem politischen und gesellschaftlichen Kontext zu übernehmen. Gleichzeitig muss das auch beinhalten, sich für die Sicherheit palästinensischer Menschen einzusetzen.

Das erfordert unter anderem gemeinschaftliche Praktiken des „Calling in“ zu praktizieren: also innerhalb einer Gruppe auf negatives Verhalten oder Worte eines Einzelnen oder der Gruppe aufmerksam machen. „Calling in“ ermöglicht es uns, Verantwortungsübernahme zu kultivieren, wenn Menschen verletzendes Verhalten an den Tag gelegt haben, ohne sie öffentlich bloßzustellen. In einem Umfeld, in dem Kriminalisierung und Strafe die dominierenden Reaktionen sind, stellt „Calling in“ eine Alternative dar, um den Kreislauf gewaltvollen Verhaltens zu unterbrechen. Wichtige Bedingungen für ein erfolgreiches „Calling in“ sind eine gewisse Nähe zur adressierten Person und die Herstellung einer offenen, aber verbindlichen Atmosphäre. Das schließt nicht aus, jemanden für verletzende Handlungen öffentlich zu benennen und zur Verantwortungsübernahme aufzufordern, wenn frühere interne Versuche erfolglos geblieben sind. Allerdings sollte bei solchen Konfrontationen immer auf die unterschiedliche Vulnerabilität gegenüber staatlicher Gewalt und Repression geachtet werden.

Es ist wichtig anzuerkennen, dass diese Art von Arbeit erhebliche Anstrengungen zur Wiederherstellung und Vertrauensbildung zwischen verschiedenen Communities erfordern wird, angesichts des Kontexts, in dem Antisemitismusvorwürfe mittlerweile seit langem als Mittel der Repression eingesetzt werden. Solche reparativen Ansätze werden auch die Bereitschaft jener Gruppen und Akteure erfordern, die andere wegen Antisemitismus zur Rechenschaft ziehen, sich selbst zur Rechenschaft ziehen zu lassen und über Rassismus aufgeklärt zu werden.

Wo keine solchen zivilgesellschaftlichen Reaktionen zu erwarten sind, besteht die erste Aufgabe eines transformativen Kampfes gegen Antisemitismus darin, solche nicht-karzeralen Verteidigungsinfrastrukturen aufzubauen.

Eine besondere Herausforderung, auf die Ansätze, die auf transformative Gerechtigkeit abzielen, noch keine gute Antwort gefunden haben, ist der Schutz jüdischer Veranstaltungen und Institutionen vor rechtsextremen Terrorattacken. Initiativen wie JFREJ (Jews for Racial and Economic Justice) und andere Gruppen, die in den USA (wo es in den letzten Jahren zu mehr tödlicher antisemitischer Gewalt gekommen ist als in Europa) mit anderen Organisationen vor Ort zusammenarbeiten und in den betroffenen Vierteln Sicherheitstrainings abhalten, sind wichtige Bezugspunkte. Ein zentraler Teil der Strategie von JFREJ besteht darin, Jüd:innen zusammenzubringen, um sich für Muslim:innen, Migrant:innen und andere rassifizierte Communities einzusetzen und zu schützen, ohne eine Gegenleistung zu erwarten. Das gehört zur bereits erwähnten Arbeit der Vertrauensbildung und Wiedergutmachung. Sich gegenseitig bei Aktionen und Veranstaltungen mit der Bereitstellung von Infrastruktur oder sichereren Räumen zu unterstützen, kann zum Aufbau langfristiger Partnerschaften und Bündnisse beitragen. In Deutschland gibt es eine lange antifaschistische Tradition, von der man ebenfalls lernen kann, auch wenn das unserer Ansicht nach auch bedeutet, den Antifaschismus vom Staat zurückzuerobern und eine intersektionale antifaschistische Praxis zu pflegen.

Um aus diesen Beispielen zu lernen und „Sicherheit durch Solidarität“ herzustellen, müssen alle zivilgesellschaftlichen Akteur:innen umfassend Verantwortung übernehmen. Solange der Schutz von Synagogen notwendig ist, könnte dieser Schutz von anderen Institutionen als der Polizei organisiert werden: Gewerkschaften, Kirchen, Moscheen, Sportvereine, Schulen. Diese Gruppen sind nicht unbedingt anti-karzeral, aber die Übernahme von Verantwortung gegenüber der Community könnte immerhin einen (Selbst-)Bildungsprozess innerhalb und zwischen verschiedenen Gruppen auslösen.

Wo keine solchen zivilgesellschaftlichen Reaktionen zu erwarten sind, besteht die erste Aufgabe eines transformativen Kampfes gegen Antisemitismus darin, solche nicht-karzeralen Verteidigungsinfrastrukturen aufzubauen. In Anbetracht der Verbreitung und der negativen Auswirkungen von karzeralen Ansätzen ist es wichtig, die Dringlichkeit dieser Aufgabe ebenso zu unterstreichen wie ihren ergebnisoffenen und experimentellen Charakter anzuerkennen. Wir rufen Communities in ganz Deutschland auf, diese Aufgabe kollektiv, kollaborativ und solidarisch anzugehen.

Yael Attia ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Zentrum für Komparative Theologie und Kulturwissenschaften der Universität Paderborn. Ihre Forschung konzentriert sich auf das moderne französisch-jüdische Denken und seine Beziehung zu postkolonialen Theorien. Zudem forscht und kuratiert sie für die Diaspora Alliance.

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Emily Dische-Becker ist Leiterin des deutschen Zweigs von Diaspora Alliance und Mitglied im redaktionellen Beirat von the Diasporist.

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Daniel Loick ist Professor für Politische Philosophie und Sozialphilosophie an der Universität Amsterdam. Loick beschäftigt sich insbesondere mit der Ausarbeitung einer kritischen Theorie des Rechts und der Staatsgewalt sowie mit Formen subalterner Sozialität.

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Anthony Obst ist Kulturwissenschaftler aus Berlin. Er arbeitet bei Justice Collective und forscht zu staatlicher Gewalt, Rassismus und Abolitionismus.

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Vanessa E. Thompson ist Assistenzprofessorin und ausgezeichnete Professorin in Black Studies und sozialer Gerechtigkeit an der Queen’s Universität, Kanada. Sie forscht und lehrt zu staatlicher Gewalt, Karzeralität und Rassismus sowie zu Abolition und Internationalismus. Sie ist in transnationalen abolitionistisch feministischen Kollektiven in Europa und darüber hinaus aktiv.

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