Eines Tages werden alle immer schon dagegen gewesen sein
Übersetzt aus dem Englischen von Nouria Behloul
Omar El Akkad über Macht und Missbrauch der Sprache in der Kriegsberichterstattung

Wenn die Vergangenheit vergangen ist, wird sich zeigen, dass die Toten nicht an ihrer eigenen Ermordung beteiligt waren. Die Familien, die in den Gängen des Krankenhauses kauerten, werden sich nicht von selbst ihre Hände hinter ihren Rücken zusammengebunden, sich an die Wand gestellt und in die Köpfe geschossen haben und dann in Massengräber gesprungen sein. Die Gefangenen in den Folterlagern werden sich nicht mit Elektrostäben penetriert haben. Die Kinder werden sich nicht ihre eigenen Gliedmaßen herausgerissen und auf dem behelfsmäßigen Fußballplatz verstreut haben. Die Säuglinge werden sich nicht für den Hungertod entschieden haben.
Wenn die Vergangenheit vergangen ist. Aber wer kann jetzt sagen, dass sie es nicht getan haben? Wer kann sich dessen wirklich sicher sein, außer den Mördern und den Toten?
SICH DIE BESCHREIBUNGEN über palästinensisches Leiden in den etablierten westlichen Medien anzusehen, bedeutet in der Regel, dabei zuzusehen, wie Sprache für das genaue Gegenteil ihres eigentlichen Zwecks genutzt wird – wie ihr die Bedeutung genommen wird. Wenn The Guardian eine Schlagzeile wie »Palästinensischer Journalist während einer Razzia im Haus eines Terrorverdächtigen von einer Kugel am Kopf getroffen« veröffentlicht, dann geht es nicht nur darum, sich hinter passiver Sprache zu verstecken, um möglichst wenig zu sagen und dadurch möglichst wenig Kritik zu riskieren. Wer mit Sprache arbeitet oder auch nur den geringsten Respekt vor ihr hat, wird entweder wütend sein über diese gequälte, rückgratlose Formulierung oder sich darüber lustig machen, aber sie erfüllt einen realen Zweck. Es gibt eine direkte Verbindung zwischen Gebäuden, die auf mysteriöse Weise einstürzen, Leben, die auf mysteriöse Weise enden, und wohlmeinenden Liberalen, die, an solche Formulierungen gewohnt, ihre Schultern zucken und sagen: Ja, das ist alles sehr traurig, aber wie ihr wisst, ist halt alles sehr kompliziert.
Manche Dinge sind kompliziert. Manche Dinge sind kompliziert gewesen.
Jetzt, in dieser jüngsten Runde des Massentötens, ist offensichtlich, dass die Maschinerie staatlicher Gewalt nicht nur von der entmenschlichenden Kraft dessen profitiert, was gesagt wird, sondern auch von dem, was vermutet wird.
Mit diesen Dingen umzugehen, ist ein regelrechtes Handwerk. Von all den Nachwirkungen der Jahre des Kriegs gegen den Terror ist eine der am meisten unterschätzten die fortschreitende Entstellung von Sprache, mit der Absicht, Gewalt zu verharmlosen. Es ist ein Phänomen, das keineswegs auf diesen einen Moment in der amerikanischen Geschichte beschränkt ist, aber alle, die den NATO-Einmarsch in Afghanistan oder die Zerstörung des Iraks miterlebt haben, werden mit diesem typischen Schattenvokabular vertraut sein. In diesen Jahren wurde niemand gefoltert, es gab nur erweiterte Verhöre. Wenn ein Soldat, Tausende von Kilometern entfernt am Joystick sitzend, eine Hochzeitsgesellschaft mit einer Terrorzelle verwechselte und eine Drohnenrakete losschickte, um die Feiernden in die Luft zu jagen, wurde niemand getötet, es gab lediglich Kollateralschäden (ein Begriff, der erstmals verwendet wurde, um das Töten in Vietnam zu beschreiben). Es gab keine Häftlinge, die eine Verurteilung benötigten, nur Gefangene, die ohne Anklage auf unbestimmte Zeit festgehalten wurden. Und wenn diese Gefangenen nach Jahren der Gefangenschaft in Zellen kaum größer als eine Besenkammer in einen Hungerstreik traten, standen sie mit ihren Häschern in einem »asymmetrischen Konflikt«.
Es ist leicht, sich auf diese Worte und Formulierungen zu konzentrieren – ihre absurde und perfide Bosheit. Doch Worte alleine können nicht alles verschleiern. Jetzt, in dieser jüngsten Runde des Massentötens, ist offensichtlich, dass die Maschinerie staatlicher Gewalt nicht nur von der entmenschlichenden Kraft dessen profitiert, was gesagt wird, sondern auch von dem, was vermutet wird. Die Praxis der Bush- und Obama-Ära, so gut wie jeden, der vom amerikanischen Militär getötet wurde, als Terroristen zu bezeichnen, solange nicht das Gegenteil bewiesen wurde, war eine der toxischsten politischen Maßnahmen, die in den Jahren nach dem 11. September erfolgten, und das aus gutem Grund. Es entweiht die Toten doppelt, weil es ihnen erst das Leben nimmt und ihnen dann eine Bezeichnung aufzwingt, gegen die sie sich nicht mehr wehren können. Und es macht sie zu Unberührbaren für die Gesellschaft. Denn wer von uns würde viel Aufhebens darum machen, wenn eine Drohne am anderen Ende der Welt eine namenlose Seele pulverisiert? Was, wenn sich herausstellt, dass es ein Terrorist war? Was, wenn sich die Standardbeschuldigung bewahrheitet und wir als Terrorsympathisanten abgestempelt, geächtet und angeschrien werden? Oft ist es so, dass Menschen am stärksten von der schlimmstmöglichen Vorstellung motiviert werden, die sie sich für ihr eigenes Leben ausmalen können. Für manche ist das Schlimmste, was ihnen widerfahren kann, das ein ganzer Stammbaumdurch einen Raketenangriff verschwindet, ihr gesamtes Leben in Schutt und Asche gelegt wird und dass das alles im Namen des Kampfes gegen den Terror im Voraus gerechtfertigt wird, denn wer getötet wird, war ja per Definition Terrorist. Für andere ist das Schlimmste, was ihnen passieren kann, dass man sie anschreit.
Eines Tages im Jahr 2008, während ich aus dem Militärgerichtssaal in Guantánamo Bay berichtete, wurden mir und einigen anderen Journalist:innen Kopien eines Antrags ausgehändigt, der vom Verteidigungsteam eines Terrorverdächtigen verfasst war. Wir hatten uns mittlerweile an die schachbrettartige Erscheinungsbild dieser Dokumente gewöhnt, die schwarzen Quadrate und Rechtecke verbargen alles, was das Militär für zu brisant hielt, um von uns gelesen oder von der Öffentlichkeit gewusst zu werden.
Wenn einer Institution gestattet wird, so frei mit Schweigen zu hantieren, wird sie unersättlich. Es geht nicht nur darum, dass fehlende Informationen es denen, die in Fehlverhalten verwickelt, aber nicht selbst davon betroffen sind, ermöglichen, wegzusehen. Das Schweigen selbst wird zu einer leeren Leinwand, auf die jede beliebige Fantasie projiziert werden kann.
Offiziell gab es detaillierte Richtlinien, die genau erklären sollten, warum das Militär bestimmte Informationen zurückhielt, fast immer wurde auf die nationale Sicherheit verwiesen. In Wirklichkeit aber waren diese Erklärungen oft Unsinn. Die Logik hinter den Schwärzungen folgte einer eigenen, faszinierenden Denkweise – in der ersten Ausgabe von Guantánamo Diary, einer Sammlung der Tagebücher, die Mohamedou Ould Slahi während seiner jahrelangen Gefangenschaft führte, gibt es eine Szene, in der er beschreibt, wie er von mehreren Soldat:innen verhört wird. Die Zensoren schwärzten nur die Pronomen der beteiligten Soldatin, bevor sie die Veröffentlichung der Passage erlaubten (in späteren Ausgaben wurden die Abschnitte wieder freigegeben). In dem Antrag, der uns an diesem Tag in Guantánamo ausgehändigt wurde, war die Kopie eines New York Times-Artikels geschwärzt, den der Verteidiger beigefügte hatte, damit der Richter ihn nicht selbst heraussuchen musste. Jemand hatte entschieden, dass ein Bericht aus der bekanntesten Zeitung der Welt zu gefährlich war, um von uns gelesen zu werden.
Wenn einer Institution gestattet wird, so frei mit Schweigen zu hantieren, wird sie unersättlich. Es geht nicht nur darum, dass fehlende Informationen es denen, die in Fehlverhalten verwickelt, aber nicht selbst davon betroffen sind, ermöglichen, wegzusehen. Das Schweigen selbst wird zu einer leeren Leinwand, auf die jede beliebige Fantasie projiziert werden kann. Wenn alle palästinensischen Journalist:innen getötet wurden, hat es vielleicht nie palästinensische Journalist:innen gegeben. Vielleicht sind sie alle Terrorist:innen gewesen oder Unterstützer:innen von Terrorist:innen oder was auch immer an Nähe zu Terror ausreicht, um jene abzuschrecken, die, in Besitz von so etwas wie einer Seele, auf diese offensichtlichen Morde blicken könnten und sagen würden: Das ist Unrecht. Ohne eine Handlung, die beschrieben werden kann, und ohne eine Sprache, die sie beschreibt, sind wir in der Lage, nichts zu glauben oder mehrere widersprüchliche Dinge oder irgendetwas.
Es existiert seit Jahrzehnten eine Version dieser Phantomrealität, die dem palästinensischen Volk aufgezwungen wurde, eine, in der es sein Land freiwillig verlassen hat und nie vertrieben wurde, nie mit Gewalt zur Flucht gezwungen wurde. Eine, in der, wie Golda Meir einst erklärte und wie unzählige israelische Politiker:innen seither wiederholt haben, es so etwas wie Palästinenser:innen nicht gibt. Eine, in der palästinensische Identität, falls sie überhaupt existiert, unbedeutend ist und mit Sicherheit über keine Rechte verfügt. Eine, in der diese Nichtmenschen dennoch gut behandelt wurden, von der Regierung und den Institutionen, die jetzt über sie herrschen, ihnen gute Jobs gegeben wurden, und manchmal wurde ihnen auf den Straßen, auf denen es ihnen erlaubt war, zu fahren, in den Bussen, in die sie einsteigen durften und hinter den Mauern, welche ausschließlich da waren, um die Sicherheit aller zu gewähren, sogar freier Durchgang gewährt. Eine Phantomrealität, in der jedes gescheiterte Friedensabkommen der Fehler dieses kompromisslosen, unvernünftigen Volkes ist und nicht des Staates, dessen Beamte sich bis heute öffentlich damit brüsten, niemals einen palästinensischen Staat existieren zu lassen. Eine, in der jede Runde der Gewalt die alleinige Folge der letzten palästinensischen Gewalttat ist. In der Zehntausende tote Kinder bloß ihre Unterstützung der Hamas zu beschuldigen haben – einer Organisation, die das letzte Mal Wahlen gewonnen hat, bevor diese Kinder geboren wurden.
Diese Geschichte bietet Sicherheit, Schutz vor dem eigenen Gewissen. Denn in dieser Geschichte verlagert sich die Last der Anklage auf die Enteigneten, die Verschwundenen, die Toten, und man kann so weitermachen wie bisher, behaglich in dem Wissen, dass die Geschichte, Erzählung, ja die Sprache selbst es verlangt, dass das Töten weitergeht. Oder, noch besser, erst gar nichts zu sagen hat.
Omar El Akkad: Eines Tages werden alle immer schon dagegen gewesen sein, aus dem Englischen übersetzt von Nouria Behloul, Matthes & Seitz Berlin, ET: 22. Mai 2025, Auszug aus Kapitel 4: Sprache