Über die Auster
Zu fünft sitzen wir um die Bartheke der Küche im »FrischeParadies« in Prenzlauer Berg, vor jedem von uns steht ein Teller mit Crushed Ice, darauf sind sechs Austern gebettet, die narbigen Deckel entfernt, das darunter liegende grau-braune Fleisch glitzert im kalten Supermarktlicht.
Die Austern sind angerichtet wie die Zeiger einer Uhr. Auf 12 liegt eine kleine Scheibe Zitrone. Nach jeder Auster ein Schluck Champagner, dann der nächste Zeiger. Zwischendurch hören wir den Vortrag der netten Experten von der Fischtheke. Man glaubt, immer so weitermachen zu können: Auster, Champagner, Auster, Champagner. Es ist ein freudiger Rausch.
»Eine Auster«, schreibt die US-amerikanische Essayistin M.F.K. Fisher in Consider the Oyster, »führt ein schreckliches, aber auch aufregendes Leben.« Zwei Wochen lang lebt die kleine Austernlarve im offenen Meer, bevor sie sich an einen harten Gegenstand heftet und die sogenannte Metamorphose durchlebt. Sie ist übrigens nicht ganz richtig, denn Austern sind Hermaphroditen — pazifische Austern wechseln ihr Geschlecht im Laufe ihres Lebens für gewöhnlich nur einmal, europäische Austern hingegen in ihren bis zu dreißig Lebensjahren immer wieder.
Die Metamorphose überstehen nicht alle der kleinen Austern. Die Bildung der Kalkschale, die später vor Feinden schützt, erfordert viel Kraft. Je mehr die Auster sich vor Eindringlingen schützen muss, desto größer wird ihr Muskel, sprich: desto schwieriger wird es später mit dem Öffnen. Und desto vollmundiger wird schließlich ihr Fleisch. Je nachdem, wo die Auster verzehrt wird, unterscheidet sich ihr Lebensende: In China, wo weltweit am meisten Austern produziert werden, wird sie fast ausschließlich gegart serviert, zum Beispiel in einem Gericht namens »Dan Jian Sheng Hao«, einem Austernomelette. Sie stirbt demnach in der Pfanne. In den USA finden sie sich mit heißer Butter und Kräuter übergossen im Backofen wieder, als »Oysters à la Rockefeller«. In Europa werden sie meist roh verspeist, das Lebensende findet also irgendwo zwischen Mund und Speiseröhre der jeweiligen Konsumentin statt.
»Ihr Leben«, resümiert M.F.K. Fisher, »war gedankenlos, aber voller Gefahren, und jetzt, wo es vorbei ist, sind wir womöglich besser dran.«
Consider the lobster nennt David Foster Wallace seinen Text über das Maine Lobster Festival, zu dem ihn 2003 das Gourmet Magazine schickt. Der Titel ist angelehnt an M.F.K. Fishers Buch, hat aber eine andere Mission. Wallace will dem Genuss nicht zuträglich sein, sondern die Leser des Magazins dazu anhalten, den Hummer als etwas Lebendiges, zu Schmerzen Fähiges anzuerkennen. Doch Wallace lässt sich nie dazu herab, selbst Hummer zu essen. Der vielleicht interessanteste Aspekt bleibt ihm damit verschlossen: Wie fühlt es sich an, wenn man im Wissen um das Leiden des Tiers trotzdem die Lobster Roll verspeist?
Jetzt, an der Theke im »FrischeParadies«, spieße ich mit der kleinen Austerngabel das graue Fleisch auf, lasse es möglichst ohne zu kauen die Kehle runter gleiten – und da ist er: der Würgereiz. Bei jeder Auster, die ich bis jetzt gegessen habe (es sind übrigens nicht viele) verspüre ich ihn. Für einen kurzen Moment denke ich dann immer: In meinem Mund liegt ein kaltes, buttriges Ohrläppchen. Spätestens, wenn ich den letzten Schluck salziges Austernwasser trinke, ist der kleine Ekelmoment aber wieder vorbei. Gerade weil Austern kein unkomplizierter Genuss sind, sind sie so unwiderstehlich.
Lust und Leid
Doch allem Ekel zum Trotz — ein ethisches Problem muss der Austerngenuss vielleicht doch nicht sein: Gegen das Essen von Austern, so gab der Utilitarist Peter Singer letztes Jahr in einem Interview bekannt, habe er prinzipiell nichts einzuwenden. »Ich glaube nicht, dass sie leiden können«, sagt er dort. Da Austern kein zentrales Nervensystem hätten und es kaum Anzeichen eines Schmerzempfindens gebe, spreche kein moralisches Gebot gegen ihren Genuss. Lust und Leid sind die Achsen, in die sich Singers Welt aufteilt. Das Essen von Austern ist mit dem guten Leben vereinbar. Aber: Können wir wirklich wissen, dass die Auster nichts fühlt?
Nicht nur diese schwebende Frage macht die Faszination mit dem Schalentier aus. Mit klingenden Namen wie Gillardeau, Tsarkaya, Utah Beach, Tia-Maraa und Sylter Royal Auster umgibt sie ein Luxus, besonders in Deutschland, den sie an vielen anderen Orten der Welt gar nicht hat. So viel Geld für etwas zu bezahlen, dass kaum satt macht, ist wirklich dekadent.
Dabei musste der deutsche Geschmack erst mit dem Austerngenuss vertraut gemacht werden. »Wem sich beim Anblick einer Austernplatte nicht der Puls beschleunigt, wem nicht das Wasser im Munde zusammenläuft, der hat von den wahren Wonnen des Lebens noch nicht alle kennengelernt«, schreibt Wolfram Siebeck, Gastronomie-Kritiker par excellence, in seiner Kochschule für Anspruchsvolle. Sie ist eine Erziehung zur Dekadenz. Siebeck hat eine Mission: Die deutsche Zunge muss Bildung erfahren, und zwar am besten durch den Genuss französischer Nouvelle Cuisine.
Auch wenn die meisten Austern, die in Deutschland gegessen werden, aus Frankreich kommen — der kulinarische Zugang zur Auster ist in Frankreich ein ganz anderer. An vielen kleinen Eckständen bekommt man hier fantastische Austern für unter zwei Euro auf die Hand. In Mont St. Michel gibt es etwa die Möglichkeit, Austern aus einem Snack-Automaten zu ziehen, wie bei uns eine Cola oder Weingummi.
So sitze ich im Oktober in einem Pariser Bistro im 20. Arrondissement. Der Kellner reicht mir eine Schale aus hellgrauem Steinzeug, die Oberfläche ist rau wie Sandstein. Wenige Minuten zuvor habe ich durch das Küchenfenster gesehen, wie der Koch einen Klecks saure Joghurtcreme in die Schüssel gegeben, darauf ein Tatar aus Austern und Jakobsmuscheln gebettet und schließlich ein paar Streifen Sauerampfer darüber gestreut hat. Wie dekadent, denke ich, ein Tatar, keine Zitrone, keine Schale, kein Crushed Ice.
Der Schein trügt jedoch, denn obwohl die Auster in kleine Teile gehackt, also kaum sichtbar ist inmitten der Jakobsmuschel, erfasse ich ihren Geschmack klarer als je zuvor. Wonach schmecken Austern? Nach einem Schluck Meerwasser, nachdem die Kehle nicht brennt. Und ein bisschen nach Fisch und nach Eiweiß. Wie ein buttriges Ohrläppchen eben.
Ganz oben in der Austernbar
Austern sind überall dort, wo sich Leute sehr anstrengen, cool zu sein. Auf Bildern der Malerin Johanna Dumet. In der Fischtheke des »FrischeParadies«, vor der die Autorin Jovana Reisinger im Ballkleid anlässlich ihrer Buchpremiere posiert. Austernessen ist irgendwie Statussymbol.
Was ihren Status ausmacht, ist aber nicht, dass man sie sich leisten kann. Es geht vielmehr darum, sie zu verstehen. Das hat Wolfram Siebeck verstanden, als er die Deutschen das Austernessen lehren wollte. Tatsächlich muss man sich rein-essen, also hineinfinden, lernen, wie es geht. Der Genuss wird mit jeder Auster größer.
In Berlin ist Austernessen quasi gleichbedeutend damit, in der KaDeWe-Austernbar abzuhängen. In die Austernbar geht man keinesfalls einfach nur zum Austern essen, sondern um an der Performance des Austernessens teilzunehmen oder sie auch nur zu beobachten. Hier sitzen wir alle zusammen und haben es, das gute Leben »in der Sechsten« — der sechsten Etage des KaDeWe. Selbstverständlich treffen sich Bestsellerautorin Caroline Wahl und ihr Interviewer hier, um sich darüber auszutauschen, wie es ist, wenn man es geschafft hat. Das graue Fleisch macht bling auf den Fotos, die leeren Austernschalen zeugen vom Exzess. Auch ich nehme im »FrischeParadies« an diesem Ritual teil — ich muss gestehen, ich kann mich nicht erinnern, je eine Auster gegessen zu haben, die nicht mindestens fotografiert worden oder sogar gleich auf Instagram gelandet ist.
Vielleicht geht es aber auch gar nicht um Status oder Geschmack oder Nachhaltigkeit oder fehlendes Schmerzempfinden auf Seiten der Auster. Vielleicht haben wir alle, also Wolfram Siebeck, die Stars und Sternchen in der KaDeWe-Austernbar, die Franzosen, ja selbst ich, wie ich hier in dieser großen Gastroküche im Prenzlauer Berg stehe, kurz: alle Austerngenießer dieser Welt, einfach einen leichten Hang zur Gewalt.
Die Austern sind die Arena, in der wir diese Gewalt ohne nennenswerte gesellschaftliche Ächtung ausleben können. Es liegt etwas entschieden Aggressives darin, wie man das kleine Austernmesser in den Zwischenraum von Deckel und Becken zwingt. Schnell findet man Gefallen daran, den Muskel von seiner Verankerung zu trennen, den Weichkörper zu drehen, zu wissen, dass man selbst tötet, was man isst. Und womöglich ist es kein reiner Freudenrausch, der uns immer wieder zu diesem Ritual zurückkehren lässt — sondern auch ein bisschen der Rausch der Gewalt.