Wie denn auch?!

„Die Nachkriegszeit ist endgültig zu Ende gegangen… Die Ära der BRD endet nicht mit ihrer Auflösung, sondern, indem lange ausgehandelte Normen ausgehöhlt werden und der erinnerungspolitische Konsens zerbricht…. Die pluralistische Kultur des Landes wird einer sogenannten Staatsräson geopfert, die das postnazistische Selbstverständnis erschüttert und die bundesrepublikanische Gesellschaft tief spaltet.“
SO LAUTET DIE THESE hinter Der grosse Kanton: Rise & Fall of the BRD, einem Symposium, das am 5. und 6. Dezember dieses Jahres in Zürich stattfand. Das von Anselm Franke, Philip Ursprung, Emily Dische-Becker (Mitglied im Beirat von The Diasporist) und Medico International organisierte Symposium brachte mehr als dreißig Wissenschaftler:innen, Schriftsteller:innen und Intellektuelle aus verschiedenen Disziplinen zusammen, um eine Einschätzung der Lage in Deutschland vorzunehmen.
Unmittelbar nach seinem Ende ist das Symposium, ganz so, wie es die Teilnehmenden vorausgesehen hatten, zum Gegenstand eines medialen Scherbengerichts geworden. Viele der Berichte scheinen das Konzept der Konferenz insgesamt abzulehnen, ohne sich ernsthaft mit den vorgestellten Analysen und Positionen auseinanderzusetzen. So wurde beispielsweise das breite Spektrum der Beiträge so verengt dargestellt, als hätte es sich um eine Versammlung gleichgesinnter pro-palästinensischer Aktivist:innen gehandelt, die linke Verschwörungstheorien nachplappern und sich dabei auffällig einig sind. Dieselben Medien suggerierten, dass die Behauptungen des Symposiums über die Einschränkung der Meinungsfreiheit in Deutschland übertrieben seien, trotz einer langen und gut dokumentierten Geschichte tatsächlicher Absagen und Ausladungen.
In den kommenden Wochen wird The Diasporist in Zusammenarbeit mit Medico International eine Auswahl der auf der Konferenz vorgestellten Beiträge veröffentlichen. Einige dieser Texte wurden als Antwort auf spezifische Thesen der Podiumsdiskussionen verfasst. Die Bandbreite der Themen reichte von etwa Formen der Realitätsverleugnung durch die Medien, die Widersprüche der deutschen Erinnerungskultur über die Beschränkungen des akademischen Diskurses und vielem mehr. Andere Beiträge liefern eine umfassendere Diagnose der Vergangenheit und Thesen zur Zukunft der Bundesrepublik. Wir werden auch Auszüge aus Diskussionen veröffentlichen, die auf die Beiträge der Podiumsteilnehmer folgten, sowie neue Artikel in Auftrag geben, die auf den im Symposium vorgestellten Ideen aufbauen. Obwohl sich viele der Autor:innen über die Umrisse der Krise einig sind, unterscheiden sich ihre Konzepte und Perspektiven, ihre Lösungsvorschläge und Erklärungen. Mit der Veröffentlichung dieser Texte in englischer und deutscher Sprache möchte The Diasporist einem größeren Publikum ermöglichen, sich direkt und ohne Vermittlung durch externe Kommentare mit den Beiträgen der Redner:innen auseinanderzusetzen.
Für internationale Leser:innen können diese Beiträge als Fallstudie gelesen werden: Die Bundesrepublik Deutschland ist ein besonderer Fall. Aber als Vorbild für liberal verfasste Gesellschaften, für die westliche Demokratie und als größte Volkswirtschaft in der EU hat ihr Schicksal Auswirkungen weit über ihre Grenzen hinaus.
„Wie denn auch?!“, fragte ein ZEIT-Kommentar in Bezug auf das Vorgehen Deutschlands nach dem 7. Oktober. Wie hätte es angesichts der Geschichte auch anders sein können? Diese Frage verdeutlicht, vielleicht etwas unbeabsichtigt, die Verantwortungslosigkeit, mangelnde politische Vorstellungskraft und diskursiven Grenzen, die die Redner:innen in Frage stellen wollten. „Deutschland befindet sich in einer einer politischen, wirtschaftlichen und intellektuellen Krise, die sowohl selbstverschuldet ist als auch ein Merkmal des Niedergangs der liberalen Weltordnung der Nachkriegszeit darstellt“, schrieb Emily Dische-Becker in einem Memo an die Redner:innen. „Wir kommen hier aber zusammen, um den Mangel an vorstellbaren Alternativen, der mit dieser Krise einhergeht, abzulehnen.“
Wie immer freut sich The Diasporist über kritische und konstruktive Antworten unserer Leser:innen. Bitte senden Sie Ihre Beiträge an [email protected].
Die Reihe wird teilweise durch den Masterstudiengang Cultural Critique der Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK) unterstützt.