Von Auschwitz zu Wolkenkratzern

Guli Dolev-Hashiloni

Wie Holocaust-Überlebende im Frankfurt der Nachkriegszeit Zuhälter, Drogenhändler und Kriminelle wurden

Zentralbild-dpd Nachkriegsprobleme in Westdeutschland 1948. Jugendliche in einer westdeutschen Stadt, die auf dem “Schwarzen Markt” mit Zigaretten handeln. Eine geregelte Arbeit kennen sie nicht. 2017-48

VOR EINIGEN JAHREN beschloss ich auf einer langen Bahnreise durch Deutschland einen Halt in Frankfurt einzulegen. Ich wollte mir die Stadt ansehen, in der meine Großeltern einst gelebt hatten. Mein in Berlin geborener Großvater war als Kind aus Nazi-Deutschland geflohen, kehrte aber in den 1980er-Jahren als Vertreter eines israelischen Unternehmens nach Frankfurt zurück. Seine Haltung dem Land gegenüber, das ihn vertrieben und seine Familie zu ermorden versucht hatte, war eine Mischung aus Anziehung und Abscheu. Diese Haltung zu Deutschland habe ich von ihm geerbt, zusammen mit seiner Sparsamkeit. Bevor ich in Frankfurt ankam, buchte ich mir ein Zimmer im billigsten Hostel der Stadt. Die Lage war perfekt, dachte ich, nur ein paar Straßen vom Bahnhof entfernt.

Bei meiner Ankunft stellte ich fest, dass die meisten Zimmer stundenweise vermietet wurden. Das Hostel entpuppte sich als Bordell und das Frankfurter Bahnhofsviertel als deutsche Crack-Hochburg. Die schmutzigen Straßen des Rotlichtviertels jagten mir Angst ein, aber nicht so sehr wie die schmutzigen Laken meines zugedrogten Zimmers. Ich konnte nicht einschlafen und irrte nachts umher. Zu meiner Überraschung entdeckte ich neben einer Methadon-Klinik ein Schild mit jiddischer Schrift, das zu einem Juweliergeschäft gehörte.

Diese Gruppe polnischer Holocaust-Überlebender hatte durch zwielichtige Geschäfte ein enormes Vermögen angehäuft, manche deutsche Journalist:innen bezeichneten sie als Mafia.

Damals wusste ich noch nicht, dass ich auf eine Spur gestoßen war, die zu den jüdischen Ganoven (ein jiddisch-stämmiges Wort) in Frankfurt führte. Diese Gruppe polnischer Holocaust-Überlebender hatte durch zwielichtige Geschäfte ein enormes Vermögen angehäuft, manche deutsche Journalist:innen bezeichneten sie als Mafia. Das tatsächliche Ausmaß der illegalen Aktivitäten der Ganoven entzieht sich meiner Kenntnis, ihren Einfluss aber kann ich bezeugen: Schwer fassbar und doch allgegenwärtig, stecken die paar Dutzend Ganoven hinter fast jedem wichtigen jüdischen Moment in der Geschichte der Bundesrepublik. Von Stripclubs bis zum Handel mit gestohlenen Bettlaken sind sie der Leim, der „die Juden“ ans „Nachkriegsdeutschland“ bindet.

Ihre Entwicklung war voller Wendungen gewesen – in den 50er-Jahren hatten sie in deutschen Gerichtssälen Tumulte verursacht, in den 60ern amerikanische GIs unterhalten, in den 70er-Jahren waren sie für den größten Diamantenraub Israels verantwortlich gewesen. Ihr einflussreiches Vermächtnis, das sich deutlich bis in die heutige deutsch-jüdische Kultur nachvollziehen lässt, ähnelt in vielerlei Hinsicht dem anderer diasporischer „Mafias“, wie dem der Sizilianer:innen und Jüd:innen in New York oder den migrantischen Gemeinschaften im gegenwärtigen Deutschland.

Wie in vielen vergleichbaren Fällen, haben auch die marginalisierten jüdischen Überlebenden in Frankfurt ihren Status als Ausgestoßene in einen kommerziellen Vorteil verwandelt. Die Waren, die sie in Hilfspaketen erreichten, wurden zur Währung, und ihre soziale Ächtung ermöglichte es ihnen, eine Art Autonomie zu entwickeln. Und wie anderswo auch, blieb die relative Freiheit, die sie sich ursprünglich in den verborgenen Winkeln der Gesellschaft nahmen, schließlich nicht ohne Einfluss auf die Ebene der Politik, was sich auch auf die Beziehungen zwischen Deutschland und Israel auswirkte. Den vielen Nebenschauplätzen ihrer Geschichte zum Trotz, ist die Entwicklung der Ganefs im Grunde recht leicht zu umreißen: Aus den Konzentrationslagern führte sie zum Schwarzmarkt im Umland von Frankfurt, von dort zu den Frankfurter Clubs und weiter zum Immobiliengeschäft. Beginnen wir, genauso wie sie, in Zeilsheim.

Die erste Gruppe von Displaced Person (DPs), die 1945 im Zeilsheimer Lager für DPs ankam, E.M. Robertson/US Holocaust Memorial and Museum

Zigaretten, Schokolade, manchmal sogar Kaffee

Die meisten Jüd:innen in Zeilsheim, dem Lager für „Displaced Persons“  im gleichnamigen Stadtteil am Rande Frankfurts, stammten ursprünglich aus Polen. Nach der Befreiung versuchten viele Überlebende, in ihre Heimatstädte zurückzukehren, wo sie nach Verwandten suchten, in der Hoffnung, wieder in ihre Gemeinden aufgenommen zu werden. Der heftige Antisemitismus im Polen der Nachkriegszeit – wo 1946 das Pogrom von Kielce stattfand, in dem 42 Jüd:innen ermordet wurden – ließ allerdings keinen Zweifel daran, dass sie weiterhin nicht willkommen waren. Verarmt und traumatisiert flohen viele von ihnen in den Westen, in die US-amerikanische Besatzungszone in Deutschland. Es ist eine ironische Wendung der Geschichte, dass es für Jüd:innen unter jenen Deutschen, die eben erst versucht hatten, sie auszulöschen, sicherer war als in ihren osteuropäischen Heimatstädten. Manche von ihnen landeten in Zeilsheim.

Im Zeilsheimer Lager herrschte ein reichhaltiges kulturelles Leben. Es gab eine Zeitung, eine Synagoge, ein Theater, konkurrierende politische Parteien, einen massiven Babyboom – und einen blühenden Schwarzmarkt. Die Überlebenden besaßen so gut wie nichts – keine Kleidung und kein Geld, das in der zerstörten Nachkriegszeit ohnehin kaum noch einen Wert hatte. Aber die DPs erhielten von verschiedenen Hilfsorganisationen Pakete voller Luxusgüter, die den Deutschen vorenthalten blieben: Zigaretten, Schokolade, manchmal sogar Kaffee. Sie begannen, mit diesen Waren Handel zu treiben und etablierten vor den Toren des Lagers einen riesigen Schwarzmarkt, der sowohl Deutsche wie auch amerikanische GIs anzog. Der Überlebende und Historiker Arno Lustiger berichtet: „Wir brauchten nicht zu hungern, wir bekamen genügend zu essen, aber wir hatten keine Gegenstände des täglichen Gebrauchs, die wurden natürlich nicht gegeben. Ganz einfache Sachen, Rasierapparat oder ein Kamm, ganz zu schweigen von anderen, von Bekleidung und so weiter. Das musste man sich alles irgendwie besorgen, organisieren. Am besten durch Tausch von Lebensmitteln oder Zigaretten, die man da bekommen hat, gegen solche Gegenstände, oder gegen Geld […]. Alles auf dem schwarzen Markt, in den Geschäften gab’s ja nichts.“

In ihren Analysen zeigen die Historiker Michael Berkowitz und Kierra Crago-Schneider, dass die Deutschen in der Kritik an der jüdischen Präsenz auf dem Schwarzmarkt ein Ventil für ihren Nachkriegsantisemitismus fanden: Nur ein Jahr nach dem Untergang des Nationalsozialismus beschränkten sich die ehemaligen Nazis darauf, die polnisch-jüdischen Flüchtlinge nur noch als Kriminelle zu bezeichnen. Tatsächlich aber überstieg der Anteil der Deutschen am illegalen Handel bei weitem den der verarmten DPs. Vielleicht hat es daher seine Berechtigung, dass die wenigen Jüd:innen, die wirklich zu den großen Schwarzmarktprofiteur:innen zählten, von öffentlicher Aufmerksamkeit verschont blieben. Sie wurden dennoch Gegenstand eines kulturellen Mythos.

Frankfurter Bahnhofsviertel (2006), Flickr

Entertainment

Um zusätzliche Essensrationen zu erhalten, fälschte die Frankfurter Gruppe Ausweise mit den Namen ihrer ermordeten Freund:innen, sie handelte mit Falschgeld und drehte den Deutschen alte Lumpen als hochwertige Bettlaken an. Diese Praktiken wurden in zahlreichen Filmen und Büchern dokumentiert, so zum Beispiel in Irene Disches Beschreibung einer Bar-Mitzvah, bei der alle Ganoven zusammenkamen, oder in den Romanen von Michel Bergmann über illegale Bettlakenhändler, von denen einer auch verfilmt wurde. Auch in israelischen Medien gab es zahlreiche Berichte, die vor Augen führten, wie wenig diese DPs, die Waren hinter den Eisernen Vorhang schmuggelten und gefälschte Uhren am Frankfurter Hauptbahnhof verkauften, ins Nachkriegsnarrativ der passiven, verängstigten Überlebenden passten.

In die Schlagzeilen geriet die Gruppe erstmals durch eine Gewalttat, die sich gegen eines ihrer eigenen Mitglieder richtete: Der Auschwitz-Überlebende Josef Buchmann, zu jener Zeit noch nicht einmal zwanzig Jahre alt, wurde 1951 zusammen mit vier Freunden vor Gericht gestellt, weil er einen anderen jüdischen Überlebenden erstochen haben soll. Dieser hatte offenbar versucht, mit einem Koffer voller Geld aus Frankfurt zu verschwinden. Einem Artikel aus den 60er-Jahren zufolge entging Buchmann, der später zu einem der erfolgreichsten Mitglieder der Gruppe aufsteigen sollte, seiner Verurteilung nur, weil ein Freund namens Erwin die Schuld auf sich nahm. Einer meiner Gesprächspartner:innen zufolge belohnte Buchmann diesen Erwin großzügig, finanzierte ihn bis zu seinem Tod und bezahlte sogar seinen Grabstein.

Die Deutschen tolerierten durch Jüd:innen begangene Verbrechen, da sie bei Menschen mit tätowierten Nummern auf dem Arm ein Auge zudrückten.

In den 1950er-Jahren, als die DP-Lager aufgelöst wurden und fast alle jüdischen DPs aus Deutschland nach Israel oder in die USA auswanderten, zog die Zeilsheimer Crew, die sich aus jungen, männlichen und säkularen polnischen Lagerüberlebenden zusammensetzte, in die Stadt. Dort stiegen sie in die Unterhaltungsbranche ein und eröffneten Bars, die eine andere Art des Vergnügens versprachen. Maxim Biller beschreibt ihre neuen Betätigungsfelder in der Erzählung Wenn ich einmal reich und tot bin anhand seiner Figur Amichai Süßman, der „gleich nach dem Krieg sehr schnell den Bahnhofsbezirk unter seine Kontrolle brachte“, und weil „er es nicht besser wußte, seine Organisation denselben Gesetzen unterordnete, die er in Treblinka gelernt hatte: das fing mit einer blutstrengen Hierarchie an, mit genauesten Arbeits- und Lieferterminen für seine Mädchen und Zwischenhändler, und endete mit der rigorosen Züchtigung und Bestrafung eines jeden, der bockte, zu schwach war oder sich ihm in den Weg stellen wollte.“

Obwohl die israelische Sensationspresse, die stets mehr über die jüdische Unterwelt in Deutschland enthüllte als ihr zurückhaltenderes deutsches Pendant, ausdrücklich berichtete, dass es sich bei einigen der Bars, die im Besitz der Ganoven waren, in Wirklichkeit um Bordelle handelte – stritten die Ganoven dies wie gewöhnlich ab. Buchmann selbst zog 1954 sogar vor Gericht, als eine halbpornographische US-Soldatenzeitung andeutete, dass seine „New York City Bar“ ein Großbordell sei und eines der Zentren des organisierten Verbrechens bilde. Darüber hinaus befahl Buchmann seinen Leuten, die Fotojournalisten anzugreifen, die ihn während seines Auftritts vor Gericht zu fotografieren versuchten, wobei einem die Ausrüstung und einem anderen die Knochen gebrochen wurden. Buchmann gewann die Prozesse: Die Verbreitung von The Overseas Weekly wurde eingestellt und der Fotograf, der ihn ungefragt fotografiert hatte, musste ihm eine Entschädigung zahlen.

Die Deutschen tolerierten durch Jüd:innen begangene Verbrechen, da sie bei Menschen mit tätowierten Nummern auf dem Arm ein Auge zudrückten. Ebenso zogen die US-Amerikaner die ehemaligen Opfer den ehemaligen Täter:innen vor und wurden so zu den Hauptgästen der jüdischen Bars. Doch man fand nicht bloß US-Amerikaner in den mehr als fünfzig jüdischen Peepshow-Clubs in Frankfurt und Umgebung. Meinen Gesprächspartner:innen zufolge frequentierte sie auch der Philosoph der Frankfurter Schule, Theodor W. Adorno. Israelische Journalisten hielten in ihren Berichten fest, wie beschämend es sei, dass die Mehrzahl der schäbigsten Frankfurter Lokale – wie die Clubs genannt wurden – sich in jüdischem Besitz befanden. Dem damaligen zionistischen Narrativ zufolge lag die größte Schande dieser KZ-Überlebenden allerdings nicht in ihrem kriminellen Lebensstil, sondern in ihrer Entscheidung, überhaupt weiterhin in Deutschland zu leben.

Diese israelischen Ganoven – zum größten Teil weder deutscher noch polnischer Herkunft – waren die erste Gruppe von Israel:innen, die das Tabu der Auswanderung nach Deutschland gebrochen hatten.

Bis in die 1970er-Jahre hinein expandierte das kriminelle Geschäft von Jüd:innen. In Artikeln aus dieser Zeit wird über steigende Aktivitäten israelischer Drogenhändler berichtet, die zunächst nach Deutschland gekommen waren, um für die polnischen Jüd:innen als shlegers (jiddisch: Schläger) zu arbeiten. Als Shimon „Kushi“ Rimon beim Handel mit Heroin erwischt wurde, landete der Israeli neben Mitgliedern der linksextremen Untergrundvereinigung RAF sowie ehemaligen NS-Funktionären im Gefängnis. Nach mehreren legendären Fluchtversuchen, bei denen er unter anderem das Gefängnis in Brand gesetzt hatte, lieferten die Deutschen Rimon schließlich an Israel aus.

Diese israelischen Ganoven – zum größten Teil weder deutscher noch polnischer Herkunft – waren die erste Gruppe von Israel:innen, die das Tabu der Auswanderung nach Deutschland gebrochen hatten. Vielleicht fiel es ihnen leichter als anderen: Allein in Deutschland zu leben galt für viele Jüd:innen bereits als eine Form des Verrats. In gewisser Weise traten meine Großeltern, die ein Jahrzehnt später für ein angesehenes israelisches Unternehmen nach Frankfurt kamen, in ihre Fußstapfen. Und nachdem ich vor drei Jahren nach Berlin gezogen bin, tue ich das wohl auch.

Ein Artikel in der Maariv Zeitung über Bordelle für amerikanische Soldaten in Westdeutschland (1962)

Kosher Real-Estate

Mitte der 1960er-Jahre gab Buchmann seine beiden berühmtesten Bars auf – das „Imperial“ und die „New York City-Bar“, in dem jede Nacht vierzig Frauen strippten. Buchmann investierte sein Vermögen auf eine Weise, die den Beginn eines neuen Kapitels in der Geschichte der Gruppe markieren sollte: Immobilien. Er finanzierte das Shell-Hochhaus in Frankfurt, den ersten Wolkenkratzer in einer Stadt, die für ihre Skyline bekannt werden sollte. Er trug auch dazu bei, Bewohner:innen aus dem Westend zu vertreiben, um Platz für neue Siedlungen zu schaffen. Dieser Schritt bedeutete eine geringere Abhängigkeit der jüdischen Geschäftsleute Frankfurts von der amerikanischen Besatzungsmacht, ihrer vormaligen Gönnerin und Beschützerin, und war ein Versuch, in Geschäftsbereiche mit größerer Legitimität vorzudringen.

Die Westend-Besetzer sind bereits Gegenstand einer ganzen Reihe von Veröffentlichungen, ihr Kampf gegen die Zerstörung des Frankfurter Viertels wurde zu einem der wichtigsten linken Anliegen nach 1968. Die Aktivist:innen argumentierten, dass die wohlhabenden Eigentümer zu kriminellen Methoden griffen, um die Bewohner:innen aus dem Viertel zu vertreiben – beispielsweise durch Raubüberfälle oder indem Wohnhäuser absichtlich der Verwahrlosung überlassen werden –, doch sie bedienten sich dabei antisemitischer Tropen und verstärkten diese, indem sie die jüdische Herkunft einiger der Eigentümer in besonderem Maße betonten.

Die Unruhen im Westend inspirierten das umstrittene Theaterstück von Rainer Werner Fassbinder, Der Müll, die Stadt und der Tod, in dem eine Figur namens „Der reiche Jude“, ein Immobilienmogul mit einer Vorliebe für Huren, zum Ziel unverhohlener Ressentiments wird. Wie eine andere Figur es ausdrückt: „Er saugt uns aus, der Jud. Trinkt unser Blut und setzt uns ins Unrecht, weil er Jud ist und wir die Schuld tragen […] Und Schuld hat der Jud, weil er uns schulding macht, denn er ist da […] Sie haben vergessen, ihn zu vergassen”.

Damit traten die Frankfurter Jüd:innen buchstäblich aus dem Schatten heraus – und besetzten die Bühne. Sie begannen, sich lautstark für ihre eigenen Interessen einzusetzen.

Die Uraufführung des Stücks im Jahr 1984 in Frankfurt – zwei Jahre nach Fassbinders Tod – kann wohl als entscheidender Moment für das jüdische Leben im Nachkriegsdeutschland beschrieben werden. Eine Gruppe von Jüd:innen – darunter auch Überlebende – setzte sich auf die Bühne, um gegen den vermeintlichen Antisemitismus des Stücks zu protestieren, und verhinderte damit die Aufführung. Dass sich gegenwärtig die Versuche häufen, linke Künstler:innen durch den Vorwurf des Antisemitismus abzusetzen, scheinen die Diskussionen von damals aktueller denn je. Verteidiger:innen des Stücks, darunter der jüdische linke Hausbesetzer Daniel Cohn-Bendit, argumentierten, dass Fassbinders Werk vielmehr eine Kritik des anhaltenden deutschen Nachkriegsantisemitismus sei und nicht dessen Befürwortung. Fassbinder selbst hatte sich vor seinem Tod in ähnlicher Weise geäußert, aber viele glaubten es nicht. 

In einem Punkt waren sich jedoch alle einig: Der Protest gegen das Theaterstück wurde zu einem Schlüsselmoment in der deutsch-jüdischen Geschichte. Selbst Cohn-Bendit betrachtete ihn als das „Coming-out“ von Jüd:innen in Deutschland, wurde dieser Protest doch gemeinhin als das erste Mal wahrgenommen, da die jüdische Gemeinschaft der BRD sich öffentlich politisch äußerte.

Damit traten die Frankfurter Jüd:innen buchstäblich aus dem Schatten heraus – und besetzten die Bühne. Sie begannen, sich lautstark für ihre eigenen Interessen einzusetzen. Die folgenden Erklärungen und Pressekonferenzen hatten einen bedeutenden Einfluss auf die Rolle des zu jener Zeit noch in Frankfurt ansässigen Zentralrats der Juden in Deutschland und machten ihn zu jener heute so prominenten politisch engagierten Organisation.

Die Fassbinder-Kontroverse und ihr fiktionaler Ganove legten den Grundstein für das Verhältnis zwischen Deutschen und Juden, bis zu der heutigen politischen Tragweite des Antisemitismusvorwurfs. Doch seit diesem Wendepunkt hat sich viel getan: Im Gegensatz zu heute ging die Forderung, Fassbinders Stück abzusetzen, von der jüdischen Gemeinde selbst aus, und die Demonstrant:innen randalierten gegen die deutschen Kultureinrichtungen statt wie heute von ihnen unterstützt zu werden. Außerdem entsprangen die Forderungen der jüdischen Gemeinde den Bedürfnissen der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland und standen nicht in Beziehung zu Handlungen oder Interessen jüdischer Menschen anderswo.

Die Bekers wurden schließlich freigesprochen, ebenso wie Buchmann, der als einstiges Waisenkind, das in einem KZ aufgewachsen war und weder schreiben noch lesen konnte, heute einer der reichsten Menschen Frankfurts ist.

Doch dies war nicht der letzte Meilenstein, der durch einen Ganoven-Skandal markiert wurde. Ein weiterer war die sogenannte „Beker-Affäre“ der 90er-Jahre, als die ZDF-Dokumentation Mafia am Main Buchmann als „den Paten“ von Frankfurt bezeichnete. Der Film unterstellte zwei anderen polnischen Juden – den Brüdern Beker –Frauenhandel und die Leitung eines Korruptionsrings, der auf die geplante Renovierung des Bahnhofsviertels abzielte, viele städtische Beamte einschloss und damit einen öffentlichen Aufschrei auslöste. Einer der Beker-Brüder, Hersch, floh während eines  Krankenhausaufenthalts nach Israel, wo sein Anwalt die deutschen Ermittlungen als antisemitisch beschrieb. Hersch Beker forderte, nicht in jenem Land vor Gericht gestellt zu werden, das einst versucht hatte, ihn auszulöschen, kam aber mit dieser Verteidigungslinie nicht durch. Er war die erste jüdische Person, die von Israel an Deutschland ausgeliefert wurde, ein Zeichen für die verbesserten Beziehungen zwischen den beiden Staaten im Nachgang der deutschen Wiedervereinigung.

Die Bekers wurden schließlich freigesprochen, ebenso wie Buchmann, der als einstiges Waisenkind, das in einem KZ aufgewachsen war und weder schreiben noch lesen konnte, heute einer der reichsten Menschen Frankfurts ist. Zudem ist er einer der großen Spender der Universitäten in Frankfurt und Tel Aviv – nicht zuletzt fördert er die akademische Partnerschaft dieser beiden Städte. Jurastudent:innen der Universität Tel Aviv besuchen heute ihre Vorlesungen im Buchmann-Gebäude.

Die Fischer-Stube, ein bekanntes Lokal in Frankfurt (2013), Flickr

Mythen auflösen, Koffer auspacken

Nach meinem Besuch in Frankfurt habe ich Interviews mit Menschen geführt, die mich anflehten, sie nicht zu zitieren. Ich habe ein knappes Dutzend Archive besucht und doch ist meine Recherche bestenfalls zur Hälfte gediehen. Ich stoße auf immer mehr historische Momente, die die Handschrift der Ganoven tragen. Sie trugen zur Verbesserung der deutsch-israelischen Beziehungen bei, indem sie die ersten Israelis nach Deutschland brachten. Sie waren ursächlich für die erste strafrechtliche Auslieferung eines Israelis nach Deutschland. Sie versorgten nicht nur amerikanische GIs mit shikses (nicht-jüdischen Frauen), sondern sicherten auch khayune (Lebensunterhalt) für Oskar Schindler, der tatsächlich eine Zeit lang von ihnen durchgebracht wurde, lange bevor Steven Spielberg ihn weltberühmt machte. Ein Theaterstück über sie mobilisierte die jüdische Gemeinde in Deutschland, sich ins Rampenlicht zu wagen. Und sie hinterließen nicht nur im Frankfurter Rotlichtviertel, sondern auch in der inzwischen ikonisch gewordenen Skyline der Stadt unübersehbare Spuren.

Die aktuelle deutsche Miniserie Die Zweiflers, ein weithin positiv aufgenommenes Familiendrama über Frankfurter Jüd:innen, repräsentiert die Ganefs anhand der Figur des Großvaters Symcha. In der ersten Folge erinnert sein Enkel an das Bordell, das dieser einst besaß und niederbrannte, um Geld von der Versicherung zu kriegen; in der Serie beschreibt ihn die Presse als eine Person mit Verbindungen zur Unterwelt, mit „Bars, Rotlichtmilieu, illegalen Casinos und einem bis heute unaufgeklärten Mord“, und seine Familie rechtfertigt seine Existenz als jüdischer Krimineller im antisemitischen Nachkriegsdeutschland, was ganz dem Selbstverständnis der Ganoven entspricht.

Ich habe die Verwendung des Jiddischen in Die Zweiflers analysiert, und wie ich dort und in einem Interview an anderer Stelle dargelegt habe, gelingt es der Serie auf wunderbare Weise, die Darstellung von Jüd:innen in Deutschland komplexer zu gestalten. Durch Figuren, die russische und polnische Jüd:innen sowie Israelis sind, wird die heutige jüdische Gemeinschaft in Deutschland auf authentische Weise in einen transnationalen und generationenübergreifenden Zusammenhang gestellt. Dennoch scheut sich die Serie, das Thema der jüdischen Kriminalität unverblümt zu adressieren.

Wie erklärt sich das anhaltende Schweigen rund um die Ganoven? Vielleicht liegt es an der Angst überlebender Ganoven, oder aber an der Sorge davor, dass eine Diskussion über jüdische Kriminelle in einem weiterhin antisemitischen Deutschland die Büchse der Pandora öffnen würde.

David Hadda, der deutsch-jüdische Schöpfer dieser neuen Miniserie, spricht in Interviews über seine Faszination für jene Jüd:innen, die durch die Frankfurter Sexindustrie zu Reichtum kamen; er nennt es eine empowernde Geschichte. Doch wie bereits frühere Filme und Bücher, spielt auch diese Serie nur kurz und beiläufig auf die Sexindustrie an, ohne sie wirklich zu visualisieren. In gewisser Weise reproduziert diese Zurückhaltung das Schweigen rund um das Thema. Vergleichbar mit einer Situation in der Serie, in der das Wort „Judenmafia“ explizit ausgesprochen wird – doch nicht als historische Beschreibung, sondern bloß als Anschuldigung, gegen die sich die Familie zur Wehr setzen muss.

Meiner Ansicht nach liegt dieses Schweigen in der Geschichte über das jüdische Leben in Deutschland begründet. Die gängige historische Erzählung, die sowohl von jüdischen wie auch von deutschen Akteur:innen vertreten wird, besagt, dass Jüd:innen „auf gepackten Koffern“ saßen. Dieser Darstellung zufolge war Deutschland nach dem Holocaust für Jüd:innen lediglich ein Wartesaal, in dem sie die bestehenden Regeln hinnahmen, während sie sich auf eine Auswanderung vorbereiteten. Dieses Narrativ legt nahe, dass jene Jüd:innen, die vor der Ankunft der postsowjetischen Kontingenzflüchtlinge hier lebten, dies vor allem taten, weil sie zu alt, schwach oder krank waren, um zu gehen.

Doch die Jüd:innen des Bahnhofsviertels widerlegen diese Erzählung – und genau an dieser Stelle wird es schwierig, über sie zu sprechen. Sie waren weit davon entfernt, passiv und gehorsam zu sein. Sie waren Holocaust-Überlebende, die sich dafür entschieden, im verfluchten Land der Nazis zu bleiben, und ihren Lebensunterhalt durch organisierte Kriminalität und das Sexgeschäft zu bestreiten. Manche von ihnen kamen sogar zu enormem Reichtum. Viele Quellen belegen ihren anhaltenden Hass auf die Deutschen, was darauf schließen lässt, dass die Ganoven auch aus Rache handelten. Ob bewusst oder unbewusst: KZ-Überlebende, die direkt nach dem Krieg ehemalige Nazis abzockten und von der Sexarbeit nicht-jüdischer Frauen profitierten, klingen definitiv nach einer Form der Rache.

Wie erklärt sich das anhaltende Schweigen rund um die Ganoven? Vielleicht liegt es an der Angst überlebender Ganoven, oder aber an der Sorge davor, dass eine Diskussion über jüdische Kriminelle in einem weiterhin antisemitischen Deutschland die Büchse der Pandora öffnen würde.

Aber vielleicht wurden die Erfahrungen der Ganoven schlicht deshalb vergessen, weil sie nicht in das Narrativ passten: Die Eskapaden der Schwarzmarkt-Räuber beweisen eine Autonomie und einen Eigensinn, die Jüd:innen im Nachkriegsdeutschland für gewöhnlich nicht zugestanden werden. Geschickte Überlebende mit jiddischem Akzent, die es in Deutschland zu Wohlstand brachten, ohne sich an die Gesetze zu halten, passen weder in das deutsche Bild des passiven jüdischen Opfers noch in das zionistische Bild von Israel als einzigem Zufluchtsort nach dem Holocaust. Besser, von solchen Dingen zu schweigen.

Guli Dolev-Hashiloni ist ein in Berlin lebender Autor und Aktivist. Er hat Masterabschlüsse in Politikwissenschaften und Global History. Sein erster Roman Tsulul (צולול) ist kürzlich auf Hebräisch erschienen. Er ist Mitglied der Gruppe Yiddish.Berlin.

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