Alle mitzunehmen – das ist unsere Stärke
Übersetzt von Hanno Hauenstein
Zwischen 1987 und 1993 war die AIDS Coalition to Unleash Power (ACT UP) die wichtigste Grassroots-Bewegung der USA. Ihre Mitglieder waren ungehorsam, widerspenstig und konfrontativ. „Bewusstsein schaffen“ – das reichte ihnen nicht. In eigenen Schnellverfahren ermöglichten ACT UP Aktivist:innen Menschen mit HIV/AIDS Zugang zu experimentellen Medikamenten und setzten sich für deren Zulassungen durch die Food And Drug Administration (FDA) ein. Andere führten Kampagnen an, um eine Änderung der AIDS-Definition des Centers for Disease Control (CDC) zu erwirken und Frauen Zugang zu medizinischen Leistungen zu ermöglichen.
ACT UP erreichte die Legalisierung des Nadel- und Spritzentauschs in New York, übte Druck auf Pharmaunternehmen und die Regierung aus, um die Prioritäten medizinischer Forschung zu ändern, und kämpfte gegen Versicherungsausschlüsse für Menschen mit AIDS. Die Gruppe schärfte das Bewusstsein für die AIDS-Krise durch direkte Aktionen: die Schließung der Grand Central Station in New York, das Stören einer katholischen Messe, die Erstürmung der FDA, die Inszenierung von Die-Ins an der Wall Street. Diese Aktionen unterbrachen für Abertausende Amerikaner:innen die vermeintliche Normalität des Alltags. AIDS ist nach wie vor ein US-amerikanisches sowie globales Gesundheitsproblem, doch die Erfolge von ACT UP trugen zur Rettung unzähliger Leben bei. Im vergangenen Jahr erhielten weltweit fast 31 Millionen Menschen eine HIV-Therapie.
Die Schriftstellerin Sarah Schulman hat die Geschichte von ACT UP als Teilnehmerin und Zeugin dokumentiert. Sie begann in den frühen 1980er Jahren als Journalistin über AIDS zu schreiben und schloss sich später selbst der Bewegung an. Ab 2001 begann Schulman im Rahmen des ACT UP Oral History Project, das sie zusammen mit dem Filmemacher Jim Hubbard ins Leben rief, lange Interviews mit 188 überlebenden ACT UP Anhänger:innen in New York zu führen. Diese Interviews bilden die Grundlage für ihren Dokumentarfilm “United in Anger” sowie für Schulmans Buch “Let the Record Show: A Political History of ACT UP New York, 1987-1993”.
Mindestens neun von Schulmans Büchern haben AIDS zum Thema, sie hat aber auch lesbische Krimis, epische Gesellschaftspanoramen sowie Sachbücher über Homophobie und Konfliktlösung geschrieben. Als Aktivistin engagierte sie sich ab Anfang der 2000er Jahre erstmals in der Solidaritätsbewegung für Palästina. In ihren Memoiren “Israel/Palestine and the Queer International” beschreibt sie ihr Aufwachsen als diasporische New Yorker Jüdin, die sich langsam von zionistischen Befindlichkeiten entfremdet.
Schulmans Texte über Palästina überschneiden sich mit ihrem Engagement für die Befreiung von Schwulen und Lesben. In einem Meinungsartikel in der New York Times von 2011 kritisierte sie Israels Pinkwashing – die Instrumentalisierung eines toleranten, schwulen Lebens in Israel durch die Regierung, um Menschenrechtsverletzungen zu vertuschen. Ihr Buch “Conflict Is Not Abuse”, das während des israelischen Militärschlags auf Gaza 2014 verfasst wurde, nimmt viele der Diskussionen vorweg, die aktuell den Diskurs über den Gaza-Krieg dominieren: die entmenschlichende Sprache der Medien, die pro-israelische Voreingenommenheit liberaler Institutionen wie der New York Times sowie die Bilder israelischer Gräueltaten auf sozialen Medien.
Als Autorin von mehr als zwanzig Büchern – darunter elf Romane, viele Theaterstücke, sowie Drehbücher – ist Schulman eine wichtige Zeitzeugin der bestimmenden sozialen Bewegungen der letzten 40 Jahre. Ihr Werk hat eine seltene moralische Autorität, zumal Schulman sich nicht einfach nur als Expertin inszeniert. Stattdessen thematisiert sie, wie jede einzelne Stimme Gefahr läuft, von Kräften der Verdrängung, des Vergessens sowie von Lügen und Zerstörung überschattet zu werden. In seiner Gesamtheit ist ihr Werk eine unsentimentale Vermessung der Grenzen des Individuums und seiner beziehungsweise ihrer Versuche, die Welt zu verändern.
Im Frühjahr 2024 habe ich mit Schulman auf zwei öffentlichen Veranstaltungen in Berlin gesprochen. Die erste war eine Diskussion über “Let the Record Show” im Literaturhaus Lettrétage. Die zweite war eine Filmvorführung von “United in Anger: A History of ACT UP” mit anschließender Diskussion im Oyoun, einem queer-feministischen und de-kolonialen Kulturzentrum. Das vorliegende Interview ist aus diesen Gesprächen hervorgegangen.
Ben Mauk: Warum schließen Menschen sich Bewegungen wie ACT UP an?
Sarah Schulman: Als ich anfing, Personen [aus der Bewegung] zu interviewen, war meine wichtigste Frage, was sie gemeinsam haben. Ich hatte ziemliche verrückte Vorstellungen. Zum Beispiel, dass sie vielleicht mit einem gewissen Gemeinschaftsgefühl aufgewachsen sind. In den ersten Interviews habe ich dann gefragt: Waren Ihre Eltern im Elternbeirat? Gingen Sie in die Kirche? Aber die Antworten waren nicht sehr ergiebig.
Im Laufe der Jahre wurde mir dann klar, was diese Menschen verband. Sie gehörten zur Sorte Menschen, die nicht einfach nur zuschauen konnten. Das vereinte sie. Abgesehen davon hatten sie so gut wie gar nichts gemeinsam.
BM: Es ist unmöglich, einen Film wie „United in Anger“ zu sehen, ohne eine Verbindung zwischen der ACT UP-Bewegung und der Palästina-Solidaritätsbewegung herzustellen. Bei ACT UP ging es um eine Bevölkerungsgruppe, die Sie als „verachtete Gruppe von Menschen ohne Rechte” beschreiben, die “sich zusammentaten und unser Land zwangen, sich gegen seinen Willen zu verändern“. Das hat laute Echos für den Kampf gegen die deutsche Haltung gegenüber Palästinenser:innen.
SS: Ich werde mich nicht zu Deutschland äußern, ich bin da keine Expertin. Was ich sagen kann: Egal ob in der AIDS-Krise oder Palästina: wir können die Zustände nur gemeinsam ändern.
Die meisten Menschen dieser Welt sind gegen diesen Krieg [in Gaza]. Leute an der Spitze der Macht halten ihn am Laufen. Außerhalb von Koalitionen ist es unmöglich, etwas dagegen zu tun.
ACT UP war keine konsensbasierte Bewegung. Man musste sich nicht zwingend über alles einig sein, um weiterzukommen. ACT UP hatte eine einzeilige Einheits-Erklärung: „Direkte Aktion zur Beendigung der AIDS-Krise“. Das war alles. Wenn man eine Idee für eine direkte Aktion zur Beendigung der AIDS-Krise hatte, dann konnte man sie umsetzen.
Wir haben uns gestritten. Die Leute schrien und brüllten sich an. Aber selbst wenn ich deine Idee schrecklich fand, würde ich nicht versuchen, dich aufzuhalten. Ich würde sie nur eben nicht selbst umsetzen. Stattdessen würde ich meine fünf Leute organisieren, die meine eigene Idee umsetzen. Diese Art radikaldemokratische Struktur ermöglicht es einer Bewegung, dass viele verschiedene Aktionen verschiedener Gruppen gleichzeitig stattfinden können. Das ist es, was letztlich den Paradigmenwechsel schafft.
Bewegungen, die versucht haben, alle dazu zwingen, einheitlich zu denken, die gleiche Analyse zu haben, sich auf eine einzige Strategie zu einigen, sind alle gescheitert. Die Catch-all-Politik ist unsere größte Stärke. Es ist die wichtigste Lektion, die wir heute von ACT UP lernen können.
BM: Was “United in Anger” auch zeigt, ist, wie konfliktbereit die Aktivist:innen von ACT UP waren. Nicht nur Konflikte im Sinne von interne Meinungsverschiedenheiten über die Strategie – sie trugen den Konflikt auch auf die Straße. War das eine explizite Strategie?
SS: Sie wurde nie explizit geäußert. ACT UP war eine Bewegung, die sich um Menschen herum organisierte, die unheilbar krank waren. Sie mussten effektiv sein: Sie kämpften gegen die Zeit.
Einer der Gründe, warum die Anhänger:innen von ACT UP so effektiv waren, war, dass sie selbst zu Expert:innen ihrer Themen wurden. Sie wussten, wovon sie sprachen. Ich habe über 18 Jahre hinweg 188 von ihnen interviewt. Jeder einzelne von ihnen wusste alles über die Medikamente. Sie wussten, warum wir die Demos veranstalten. Jeder wusste, was die Forderung war. Wenn man die Lösung selbst entwerfen muss, braucht man eine informierte Bewegung. Wenn man sich wie ein Kind auf die Mächtigen verlässt, um ein Problem zu lösen, wird das Problem nie gelöst werden. Die Leute an der Macht wollen es nicht lösen. Sie wüssten auch gar nicht wie.
Der Dramatiker Jim Eigo hat beispielsweise eine Regierungsbehörde untersucht und herausgefunden, wie Menschen mit AIDS experimentelle Medikamente bekommen können. Das hat funktioniert. Man präsentiert den Machthabern eine vernünftige und durchführbare Lösung. Sie werden Nein sagen, weil sie das eben immer tun, und dann macht man eben theatralische, kreative, gewaltfreie Aktionen zivilen Ungehorsams, die über die Medien an die Öffentlichkeit gelangen. Man nutzt die Medien, um zu vermitteln, dass man die Lösung parat hat.
BM: In “Gentrification of the Mind” und “Let the Record Show” schreiben Sie darüber, wie Sie Anfang der 2000er Jahre feststellten, dass diese Lehren vergessen wurden. Einer der Anstöße für das Oral-History-Projekt war die Rettung des institutionellen Gedächtnisses – einschließlich Strategien, die funktionierten oder nicht funktionierten – vor der Einebnung durch den Mainstream.
SS: Einer der Fehler, den die Linke macht, ist, Dinge auszuprobieren, die nicht funktionieren, und es dann wieder und wieder und wieder zu tun. Aber wenn etwas nicht funktioniert, sollte man es einfach sein lassen. Ich weiß, das klingt zu einfach, aber es ist wirklich eine schwer zu lernende Lektion.
Wir haben zum Beispiel gelernt, dass es nichts bringt, viel Zeit auf ein einzelnes Event zu aufzuwenden. Man bringt beispielsweise Leute zu irgendeiner Art Kundgebung. Normalerweise stehen sie im Regen und hören den Redner:innen zu. Und dann gehen sie nach Hause. Das funktioniert nicht. Das ist reine Zeitverschwendung.
Was man stattdessen tun sollte, ist, eine Kampagne aufzubauen. Man hat eine Forderung, und jede Aktion, die man durchführt, kann diese Forderung vorantreiben, so dass jede Aktion zum nächsten Schritt beiträgt. Man muss sich etwas Neues einfallen lassen. Ziviler Ungehorsam muss kreativ sein. Hier kommen die Künstler:innen ins Spiel, von denen es in Berlin ja sehr viele gibt. Jedes Mal, wenn man etwas tut, muss es anders aussehen. Dann verschwendet auch niemand seine oder ihre Energie. Es ist schließlich sehr einfach, die Energie einer Bewegung zu verschwenden.
BM: Im Film sehen wir, wie ACT UP-Aktivist:innen die Grand Central Station besetzen. Diese Aktion wurde [letzten Herbst] auch für eine pro-palästinensische Aktion durchgeführt, die von Jewish Voice of Peace und If Not Now organisiert wurde. Eine ähnliche Besetzung gab es dieses Jahr auch am Berliner Hauptbahnhof. Writers Against the War in Gaza haben eine Zeitung namens ‘New York Crimes’ herausgebracht – auch das hatte ACT UP in ähnlicher Form bereits gemacht. Sehen Sie Resonanzen zwischen den Strategien und Aktionen, die von diesen beiden Bewegungen praktiziert werden?
SS: Die ursprüngliche Aktion am Grand Central richtete sich gegen den Golfkrieg. Der Slogan lautete: „Fight AIDS, not Arabs“. Das ist seit Jahrzehnten Teil der Politik von ACT UP gewesen. Die Leute lesen die Geschichte von ACT UP und nutzen sie als Leitfaden für die Palästina-Solidarität von heute. Die Verbindungen liegen auf der Hand. Wir nehmen es auch heute noch mit der New York Times auf, genau wie ACT UP damals. Sie ist noch immer ein Instrument von Desinformation.
In den vergangenen 30 Jahren war die Palästina-Solidarität eine marginalisierte Bewegung. Organisationen wie Students for Justice in Palestine oder Jewish Voice for Peace sind inzwischen 30 Jahre alt. Menschen haben ganze Bücher geschrieben, die niemand gelesen hat, mich eingeschlossen. Ideen wurden entwickelt, auch wenn sie nicht immer verbreitet worden sind. Aber als es darauf ankam, erwies sich all diese Arbeit als eine Art Infrastruktur. Alles, was jetzt passiert, baut darauf auf.
BM: Im Film hört man, dass „Menschen mit AIDS selbst die Expert:innen für das sind, was sie brauchen“. Aktivist:innen in Deutschland kämpfen dafür, dem Kulturbetrieb und Medieninstitutionen zu vermitteln, dass sie mit Palästinenser:innen darüber sprechen sollten, was in Palästina passiert. Persönlich werde ich auch wütend, wenn ein Deutscher versucht, mir als Jude zu erklären, was Antisemitismus ist. Hierzulande werden selbst die harmlosesten Bekundungen palästinensischer Solidarität als antisemitisch gebrandmarkt. BDS ist sowieso als antisemitisch gebrandmarkt. Die Vorstellung, dass andere Leute womöglich besser wissen, was antisemitisch ist, was Völkermord ist, was in Palästina passiert – all das wird in Deutschland aktiv unterdrückt.
SS: Diese Sache mit falschem Antisemitismus ist einfach Bullshit. “Nie wieder” muss für alle gelten. Das ist doch gerade die Idee hinter dieser Forderung. Ansonsten ist auch sie Bullshit. Wir müssen stark sein und Widerstand leisten. Dieser Kampf um Rhetorik geht jeden Tag weiter, aber immer mehr Menschen sind auf der richtigen Seite. Wir müssen einfach weitermachen.
Wir alle verstehen Streiks. Wir alle verstehen Boykotte. Aber wenn es um Palästina geht, verstehen wir es plötzlich nicht. Warum? Weil die Palästinenser:innen in der Öffentlichkeit entmenschlicht wurden. BDS ist eine gewaltfreie palästinensische Strategie. Sie existiert seit 2005. Es ist die gleiche Strategie, die gegen Apartheid in Südafrika eingesetzt wurde. Ich weiß, dass man das in Deutschland nicht sagen darf – aber ich möchte Sie alle auffordern, BDS zu unterstützen. Wenn wir alle BDS unterstützen würden, hätten wir mehr Macht.
Es ist peinlich und beschämend für mich, dass ich bis 2009 gebraucht habe, um mich mit der israelischen Besatzung auseinanderzusetzen. Davor habe ich sie praktisch ignoriert. Schließlich entschied ich mich dazu, das intensiver zu tun, um besser zu verstehen, was vor sich ging. Und ich begann einen lebenslangen Prozess, in dem ich mich noch immer befinde: die Ideologien jüdischer ‘supremacy’, mit denen ich aufgewachsen bin, zu dekonstruieren; Demografie nicht als Form von Allyship zu sehen; wirklich daran zu glauben, dass „Nie wieder“ für alle gilt. Diesen Bereich des Zweifels und der Selbstkritik zu betreten, bedeutet, auf das eigene Leben und die eigene Familie zurückzublicken und zu erkennen, dass Dinge, die man geglaubt und getan hat, falsch waren. Wir haben keinen anderen Ausweg, weil 30.000 Menschen [zum Zeitpunkt des Interviews die geschätzte Anzahl getöteter Zivilist:innen in Gaza, Anm. d. R.] mit US-Geldern brutal ermordet worden sind, und zwar in unserem Namen als Amerikaner:innen und Jüdinnen und Juden. Wenn wir wirksam sein wollen, müssen wir uns selbst ins Gesicht schauen. All das ist nicht besonders angenehm oder bequem. Aber es muss sein.
Sarah Schulman ist Autorin von mehr als 20 Romanen, Sachbüchern und Theaterstücken. Sie hat einen Stiftungslehrstuhl für kreatives Schreiben an der Northwestern University inne. Sie setzt sich seit langem für die Rechte von Queers und die Stärkung der Rolle der Frau ein und ist Mitglied des Beirats der Jewish Voice for Peace.