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Defunding Dissenz

Emily Dische-Becker

,

Julia Bosson

Emily Dische-Becker über die Haushaltskürzungen des Berliner Senats

Bild: © Michael C. Waldrep

Am Tag dieses Interviews mit Emily Dische-Becker hielten Kulturschaffende eine große Demonstration vor dem Roten Rathaus in Berlin ab. Sie protestierten gegen den kürzlich veröffentlichten Haushalt des Berliner Senats für 2025, der die Mittel für Kunst und Kultur um 12-13 % kürzt. Die Auswirkungen dieser Kürzungen, die fünf Wochen vor Jahresende bekannt gegeben wurden, sind eine Katastrophe für den Kultursektor: Sie bedeuten das Ende der beliebten eintrittsfreien Sonntage in Museen, die Absage schon geplanter Aufführungen, den Verlust von Hunderten von Arbeitsplätzen in einem ohnehin finanziell prekären Sektor, die mögliche Insolvenz vieler Berliner Kultureinrichtungen, die Schließung des Projektbüros Diversity Arts Culture sowie von Unterstützungsangeboten für gehörlose Künstler:innen und Künstler:innen mit Behinderung. All dies vor dem Hintergrund des anhaltenden Aufstiegs der extremen Rechten, die ihren Kulturkampf auch in Deutschland führen.  Die Kürzungen scheinen ein wahrgewordener kollektiver Albtraum zu sein.

– Julia Bosson

Julia Bosson: Der Berliner Senat hat kürzlich seinen Haushalt für 2025 veröffentlicht, der eine Kürzung der Mittel für Kunst und Kultur um 130 Millionen Euro vorsieht. Wie würdest du diese Entwicklung im politischen Kontext der letzten Jahre einordnen?

Emily Dische-Becker: Diese Kürzungen sind Teil eines breiteren Trends der Austeritätspolitik in Deutschland, die ich für ziemlich menschenfeindlich halte. Angesichts der Versuche des Berliner Senats, politische Gesinnungstests einzuführen, kann die gleichzeitige Streichung von Mitteln für den Kulturbereich auch als “defunding Dissens” verstanden werden. Dafür spricht ebenfalls, dass das gesamte Kulturbudget nur rund 2% des Gesamtetats ausmacht. Es geht wohl um mehr als nur einen Sparkurs.

Bereits im vergangenen Jahr versuchte der Berliner Kultursenator Joe Chialo erfolglos eine verpflichtende Klausel für alle Förderanträge einzuführen, bei der Antragsteller:innen schwören sollten, sich der kontroversen Arbeitsdefinition von Antisemitismus der IHRA anzuschließen, um Fördergelder zu erhalten. Dies scheiterte im Januar, auch aufgrund von Protesten aus dem organisierten Kulturbereich und letztlich, weil die Rechtsberater:innen des Berliner Senats feststellen mussten, dass die Klausel verfassungswidrig ist – sie verletzt die Meinungsfreiheit und die Freiheit der Kunst.

Wenn man einfach einem Sektor, der ja für seine internationale Prägung und seiner lauten Kritik an bedingungsloser Israelunterstützung – als Identitätspolitik des deutschen Staates – bekannt ist, die Gelder streicht, kann man diese Kritik auch unterdrücken, ohne direkt zu zensieren.

Generell sind Versuche, Gesetze gegen vermeintlich antisemitische Äußerungen in Deutschland zu verabschieden, bereits auf verfassungsrechtliche Hürden gestoßen. 2019 verabschiedete der Bundestag eine Resolution, die die Methoden der BDS-Bewegung – der Boykott-, Desinvestitions- und Sanktionsbewegung, die 2005 von der palästinensischen Zivilgesellschaft ins Leben gerufen wurde – als antisemitisch einstuft. Rechtlich gesehen ist diese Resolution nicht bindend. Sowohl der Wissenschaftliche Dienst des Bundestags als auch das Bundesverwaltungsgericht stellten fest, dass sie als Gesetz verfassungswidrig wäre.

Daher versuchen verschiedene Akteure, die fundierte Kritik an Israel mit Antisemitismus gleichsetzen, die Förderrichtlinien auf Länderebene zu ändern. Das Tikvah-Institut, geleitet von Volker Beck – einem ehemaligen Grünen-Abgeordneten und heutigen Präsidenten der Deutsch-Israelischen Gesellschaft, einer Lobbyorganisation, deren Hauptförderer das Auswärtige Amt ist– beauftragte eine Studie, die zeigen sollte, wie durch Veränderungen der Landeshaushaltsordnung verfassungsrechtliche Hürden zu umgehen sind, um Förderung zwingend an ein Bekenntnis zu einer fragwürdigen Definition von Antisemitismus zu binden.

Ich würde behaupten, dass die immensen Kürzungen des Berliner Kulturhaushalts dazu dienen sollen, explizite Zensur zu vermeiden, die aufgrund verfassungsrechtlicher Schutzbestimmungen zu aufwendig und heikel wäre. Wenn man einfach einem Sektor, der ja für seine internationale Prägung und seiner lauten Kritik an bedingungsloser Israelunterstützung – als Identitätspolitik des deutschen Staates – bekannt ist, die Gelder streicht, kann man diese Kritik auch unterdrücken, ohne direkt zu zensieren.

Wir kennen das bereits als beliebtes Instrument aus dem Werkzeugkasten der rechten Kulturkämpfer:innen: Sparmaßnahmen und weitreichende Mittelkürzungen, um keine kleinteiligen Kontrollen durchführen zu müssen, wie bei der Verabschiedung einer umstrittenen Antisemitismus-Definition. Politiker:innen können so Wege finden, die Verfassung zu umgehen und trotzdem weiterhin glauben, immer noch aufrechte Demokraten zu sein. Durch die Verfassung geschützte Rechte sind ein Problem, und das ist eine Lösung mit den Mitteln der Bürokratie.

Nicht erst seit dem 7. Oktober wird auf dem kulturellen und akademischen Feld um den Erhalt öffentlicher Fördermittel für die Freiheit der Wissenschaft, die Freiheit der Künste und die Meinungsfreiheit gekämpft. Die Sparmaßnahmen in Berlin, also dem Zentrum der deutschen Kulturszene, versetzen diesem Ansinnen den Todesstoß. 

Im größeren Kontext zeigen sie auch, dass Deutschland sich davon verabschiedet, Kulturförderung zu betreiben, um so “soft power” zu kultivieren.

Die Kürzungen sind Teil eines Epochenwandels. Das Militärbudget wird aufgestockt, Kultur- und Akademiebetrieb werden die Gelder entzogen. Zur Militarisierung gehören auch Re-Nationalisierung auf verschiedenen Ebenen, und der generelle Rechtsruck. In diesem neuen Paradigma existieren nur Wettbewerb und nacktes Überleben. Der Gesellschaftsvertrag der Nachkriegsära und seinen Garantien an die Menschen, wie Infrastrukturen zur Wahrung der Menschenrechte und Maßnahmen gegen Diskriminerung und für soziale Gerechtigkeit, wird aufgelöst.

Was eint denn die extreme Rechte, von Israel bis Europa und darüber hinaus? Das gemeinsame Projekt, die internationalen rechtlichen Institutionen zu zerlegen, die Eigenstaatlichkeit begrenzen, wie die EU, Gerichte für Menschenrechte und die UN. Gleichzeitig werden im Kampf gegen “wokeness” die entsprechenden Infrastrukturen auch innerhalb des Staates attackiert. Die Kürzungen in Berlin entziehen einem Großteil der Initiativen im Bereich der Rassismus- und Diskriminierungsbekämpfung die Förderung. Währenddessen wird unter dem Banner der vermeintlichen Israelsolidarität die gesamte Rechtsstruktur auf nationaler und internationaler Ebene ausgehöhlt, vielleicht sogar aufgegeben.

JB: Du beschreibst damit Angriffe auf zwei Eigenschaften, auf die Berlin selbst am stolzesten ist: „arm, aber sexy“ – wobei „arm“ Bezahlbarkeit und „sexy“ die lebendige Kunstszene meint– sowie die Vielfalt des Berliner Lebens. Was bedeuten die Kürzungen für Künstler:innen und Kulturschaffende, besonders jene mit internationalem Hintergrund?

EDB: Sie sind eine komplette Katastrophe und zeigen einen Schulterschluss von migrationsfeindlicher Stimmungsmache, Kulturfeindlichkeit und einem irreführenden und entgrenzten Anti-Antisemitismus, der seit dem 7. Oktober eskaliert.

In den letzten 20 Jahren konnte man in der Kunstwelt mit Geld von Milliardären den Kapitalismus kritisieren. Und in der BRD nimmt die Zivilgesellschaft staatliche Mittel in Anspruch und kann damit den Staat kritisieren. Lange galt, dass öffentliche Förderung uns die Freiheit gibt, das zu sagen und zu kreieren, was wir wollen. Ich sehe das im Nachhinein als historische Anomalie. Diese BRD gibt es nicht mehr. Den Kampf um das Geld haben wir erstmal verloren. 

In Deutschland kann man zwar eine Position zu Palästina äußern, die von der deutschen Staatsräson divergiert, aber nicht als Künstler:in oder Journalist:in, oder in anderen Feldern, die durch öffentliche Gelder finanziert werden. Anders als in den USA fehlt es in Deutschland an einer ausgeprägten privaten Philanthropie. Das wirft entscheidende Fragen auf, darüber, wie Menschen ihren Lebensunterhalt verdienen sollen und wie sich die Zivilgesellschaft – die massiv von staatlicher Förderung abhängig ist – neu erfinden wird. 

Berlin wird zunehmend zu einer Stadt für Reiche. Das zeigt sich in der Wohnungspolitik und der systematischen Unterfinanzierung öffentlicher Dienstleistungen wie dem öffentlichen Nahverkehr. Schon vor dem 7. Oktober gab es massive Kürzungen bei sozialen Programmen in Bezirken wie Neukölln. Schulen werden nicht instand gehalten, Spielplätze werden nicht erneuert und Freizeitangebote für Kinder nach der Schule werden beendet.

Diese Kürzungen werden wahrscheinlich zu stärkeren sozialen Spannungen führen, da es nur wenige Unterstützungsangebote für einkommensschwache Familien gibt. Das folgt einer “carceral logic”, einer Logik der Überwachung und Bestrafung. Der Staat wird Probleme mit verstärkter Polizeipräsenz und Repression lösen, die auf Stadtteile mit mehrheitlich muslimischer und arabischer Bevölkerung abzielt. Die Polizeipräsidentin hat ausdrücklich erklärt, dass bestimmte Berliner Gegenden nicht sicher für Juden und LGBT-Personen seien, und zeigt damit einen eindeutig diskriminierenden Ansatz im Sozialmanagement. Im gleichen Interview hat die Polizeipräsidentin übrigens auch behauptet, dass “antisemitische Gewalt” in erster Linie nicht Jüdinnen und Juden trifft, sondern die Polizei selbst. Die Täter sind die Ausländer, die Opfer die deutsche Polizei.

JB: Wir haben schon oft über diese historische Ironie gesprochen: Menschen sind in den 2010er Jahren nach Deutschland gekommen, um vor autoritären Regimen zu fliehen, nur um hier selbst zur Zielscheibe eines autoritären Projekts zu werden. Das ist ein ziemlicher Teufelskreis. Angesichts deiner düsteren Prognose: Wie geht es weiter? Was tun? 

EDB: Aktionen wie noch ein offener Brief bringen ja nur etwas, wenn es ein liberales Feld öffentlicher Meinungsbildung gibt, die angemessen darauf reagiert – stattdessen werden die Unterschriften unter solchen Briefen einfach zur Grundlage für schwarze Listen. 

Ich bin 2013 nach acht Jahren im Libanon zurück nach Berlin gezogen, zusammen mit Freunden, die Syrien, Ägypten und andere Orte nach den unterdrückten Aufständen in der arabischen Welt  verlassen mussten. Berlin versprach, ein Schmelztiegel für linke arabische Kulturszenen zu werden, an denen im Übrigen auch viele selbst-exilierte, nationalismuskritische Israelis teilhaben, wie es anderswo kaum möglich schien. Dadurch sammelten sich in Berlin Menschen mit enormer Erfahrung im Umgang mit autoritären Herrschaftsformen. Ich sage nicht, dass Berlin genau wie Ägypten oder Syrien werden wird, vielleicht eher wie Ungarn oder Polen. Aber wir können erkennen, dass die “Autoritäre Internationale”  Strategien erlernt und an verschiedenen Orten reproduziert.

Die wichtigste Frage ist doch: Was tun wir, nachdem wir akzeptiert haben, dass das alte liberal-demokratische Paradigma tot ist?

Wir können solche Muster schließlich auf der ganzen Welt beobachten: Anti-NGO-Gesetze in Ägypten, die Menschen beschuldigen, weil sie Geld von internationalen Organisationen annehmen, in Anlehnung an ähnliche Maßnahmen in Slowakei, Ungarn und Israel. In den USA erlaubt es ein Gesetz dem Finanzministerium, gemeinnützige Organisationen als ‘Helfer oder Unterstützer von Terrorismus’ zu deklarieren und ihnen ihren gemeinnützigen Status zu entziehen. Es ist davon auszugehen, dass solche Maßnahmen in abgewandelter Form bald weltweit eingesetzt werden. 

Es sind gerade die Menschen, die schon unter solchen schwierigen politischen Umständen aktiv waren und jetzt hier leben, deren Wissen wir brauchen. Weil über die angeblichen „Free-Speech-Warriors“ der Rechten so viel gesprochen wird, hat das Thema Meinungsfreiheit in bestimmten linken Kreisen einen schlechten Ruf. Dabei sind es oft Menschen, die selbst in autoritären Systemen gelebt haben, die sich am glühendsten für den Erhalt der Demokratie einsetzen und auf ihre Grundrechte beharren. Auch deswegen haben sie sich hier ein neues Leben aufgebaut und werden es nicht hinnehmen, nun als Bürger:innen zweiter Klasse oder Unpersonen behandelt zu werden.

In einem großen Teil der deutschen liberalen Gesellschaft habe ich in den letzten Jahren hingegen nur Zögern und Opportunismus beobachtet, wenn es um die Verteidigung des Rechts auf  unpopuläre Meinungen oder schwer verdauliche Fakten geht. Auch deswegen frage ich mich, welche Lehren aus der deutschen Vergangenheit Liberale bitte meinen gezogen zu haben. Vielleicht glauben sie, dass Widerstand gegen Ungerechtigkeit eine bequeme Angelegenheit ist, bei der man sich keine Feinde macht, statt einer großen Belastung, nicht zuletzt einer finanziellen. Das Ausmaß der Kürzungen jetzt betrifft den ganzen Kulturbetrieb und ändert an dieser Situation vielleicht etwas. Schweigen lohnt sich nicht mehr, es rechnet sich einfach nicht, wenn es eh keine finanziellen Überlebenschancen mehr gibt. Da könnte ein vermeintlicher Konsens brechen, was potenziell neue Formen der Organisierung und Solidarisierung möglich macht. Aber auch hier bitte keine Illusionen: Auch das wird extrem schwierig, da das Leben hier sehr teuer geworden ist.

Die wichtigste Frage ist doch: Was tun wir, nachdem wir akzeptiert haben, dass das alte liberal-demokratische Paradigma tot ist?

Wir müssen andere Wege finden. Das klingt jetzt vielleicht leichtfertig, aber: subversive Ideen an staatlicher Repression vorbei zu schmuggeln erfordert eine andere Kreativität und ein anderes ökonomisches Modell. Ich bin fast gespannt, was für Kunst hier entstehen wird. Das soll keine Zensur gutheißen, sondern nur etwas resignierten Optimismus beisteuern.  

Die wirtschaftlichen Folgen kann ich nicht absehen. Wir haben uns in Deutschland immer gegen die in den USA verbreiteten Modelle von mutual aid gewehrt, weil sie anscheinend den Neoliberalismus als paradigmatisch gegeben akzeptieren.  

Wir haben stattdessen immer betont, dass es die Verantwortung des Staates ist, für eine Grundsicherung zu sorgen. So habe ich auch zuerst auf die Ereignisse des Jahres 2015 reagiert, als zivilgesellschaftliche Initiativen begannen, Geflüchtete zu versorgen und unterzubringen, was eigentlich Aufgabe des Staates ist. Aber so ist die Realität, in der wir leben, und wir müssen herausfinden, wie wir es gemeinschaftlich schaffen, unsere Probleme zu lösen. Dazu gehört auch, unternehmerisch tätig zu werden. Früher haben wir gegen schrumpfende Räume gekämpft, jetzt sind die Räume geschrumpft. Also ist die Frage, wie wir diese Räume für uns selbst kreieren, und welche Modelle gibt es dafür? Wie sähe ein Chinatown in Berlin aus – ein Ort, der sich der Assimilation und Einebnung widersetzt, als wäre er ein ganz anderer Teil der Welt, aber trotzdem unverwechselbar zu seiner Umgebung gehört? 

Wir haben über die Idee der „Parallelgesellschaft“ gesprochen – ein Begriff, der von rassistischen deutschen Boulevardzeitungen und Politiker:innen als abwertende Bezeichnung verwendet wird und meiner Meinung nach antisemitische Wurzeln hat. Juden wurde historisch vorgeworfen, abgeschottete Netzwerke zu spinnen, also de facto Clans zu bilden. Heute richtet sich dieser Begriff vor allem gegen Araber:innen und Menschen aus dem Nahen Osten.

JB: Im November gab Nan Goldin eine bemerkenswerte Rede bei der Eröffnungsfeier ihrer neuen Ausstellung in der Neuen Nationalgalerie. Kannst du ein bisschen über die Bedeutung dieses Moments in der aktuellen Kulturlandschaft sprechen?

EDB: Dieser Fall war in gewisser Weise die Ausnahme, die die Regel bestätigt. Tatsächlich genießen Kulturinstitutionen gerne das Ansehen und auch die internationale Relevanz des Präsentierens von politischer Kunst — aber bitte ohne die politischen Positionen dieser Menschen, die sie in Deutschland nur in Schwierigkeiten bringen. Sie stellen sich im Übrigen fast nie vor ihre eingeladenen Gäste, die in die Kritik geraten und laden sie, trotz eigenen Bekenntnisses zur “Weltoffenheit”, auch häufig wieder aus. Sie verteidigen ihre Investition, von der sie sich wünschen, dass sie ihnen weniger Ärger bereiten würde. Einerseits ist Nan Goldins Fähigkeit, ihre Plattform auf diese Weise zu nutzen, darauf zurückzuführen, dass sie „too big to fail“ ist, zu groß ist, um gecancelt zu werden, unter anderem weil sie mehrere Millionen Euro an Ticketverkäufen einbringt. Andererseits schätzt der Direktor der Institution, Klaus Biesenbach, sein internationales Profil und würde es nicht riskieren wollen, seinen Ruf zu ruinieren, indem er jemanden cancelt, der so berühmt und in kosmopolitischen Kreisen beliebt ist.

Es gibt einen grundlegenden Konflikt zwischen denen, die mit „schreckliche Bilder“ die Vernichtung des Lebensraumes in Gaza meinen, und jenen, die so eine jüdische Künstlerin und pro-palästinensische Aktivist:innen in einem deutschen Museum beschreiben.

Die Medienreaktionen waren sehr aufschlussreich. In der WELT stand, es gebe hier „Bilder, wie wir sie nie sehen wollten“, die unsere Feeds in den sozialen Medien überfluteten. Ich dachte erst, dass sie mit Sicherheit Bilder der gut dokumentierten Gräueltaten meinen müssen, die von Israels Armee in Gaza und im Libanon ungestraft begangen werden, aber nein, sie meinten den absoluten Horror dieser 71-jährigen jüdischen Künstlerin, die in perfekter Choreografie mit Aktivist:innen agierte, die Banner an der Security vorbei geschmuggelt hatten.

Die deutschen Medien beschwerten sich in erster Linie über Goldins Vorwürfe gegen Deutschland, nicht über ihre Anklage gegen Israel. Als sie die Statistik erwähnte, dass 88 % der Wohnungen in Gaza beschädigt oder zerstört seien, stellten die deutschen Medien das gar nicht infrage. Aber ihre gut belegten Vorwürfe zur deutschen Cancel Culture? Diese nannten sie lächerlich und gefährlich. 

Es gibt einen grundlegenden Konflikt zwischen denen, die mit „schreckliche Bilder“ die Vernichtung des Lebensraumes in Gaza meinen, und jenen, die so eine jüdische Künstlerin und pro-palästinensische Aktivist:innen in einem deutschen Museum beschreiben. Dieser Moment zeigte Deutschlands unbeholfenen Versuch, die Realität zu kontrollieren  – der in diesem Fall gescheitert ist.

JB: Du hast über die Diaspora als eine Form der Selbst- oder inneren Exilierung gesprochen, was meiner Meinung nach mit dem Konzept der Parallelgesellschaft verbunden ist. Das meint ein doppeltes Exil – für diejenigen, die wirklich ins Exil nach Deutschland kommen, und für jene, die nun von der staatlich geförderten Kulturszene ausgeschlossen sind. 

EDB: Als Konzept haben “inneres Exil” und “innere Emigration” eine interessante Geschichte. Es erinnert an Deutsche, die in den 1930er Jahren in Deutschland geblieben waren und sich nicht lautstark gegen die Nazis gestellt hatten, später aber behaupteten, sie seien in der „inneren Emigration“ gewesen. Daher hat der Ausdruck im Deutschen ein bisschen eine unehrliche Konnotation. Von iranischen Freunden habe ich erfahren, dass dieser in der Islamischen Republik auch verwendet wird. Das “innere Exil”, das ich meine, ist eins, in das wir nicht allein, sondern zusammen gehen, als eine Form von “worldmaking” (Welterzeugung). 

Ich sehe diesen Punkt auch als Herausforderung: Können wir an einem Ort wie Berlin weiterleben und unsere eigene Gesellschaft im Exil schaffen, trotz der Feindseligkeit von außen und innen? Die offensichtliche Einschränkung kommt durch die staatlichen Einwanderungsbehörden. Einzelne Likes für Beiträge, die etwas wie „from the river to the sea“ enthalten, selbst wenn sie erklären, was das überhaupt bedeutet, werden automatisch als Teilnahme an einer antisemitischen Demonstration eingestuft – und gelten dann als Ausweisungsgrund. Wir haben ausführliche Dokumentation über einen umfassenden Überwachungsapparat: Menschen werden bei ihren Einbürgerungstests zu ihren Aktivitäten in den sozialen Medien befragt.

Wenn Worte, Instagram-Slides, Proteste und Aktionen nichts  bewirken und nur als Anlass für permanentes Derailing und Verzerrung von Gewaltverhältnissen herhalten, dann könnte inneres Exil die bessere Alternative sein.

Ich frage mich, wie es sein könnte, weiterhin hier zu leben, aber den offiziellen Diskurs zu ignorieren. Mittlerweile sind die meisten Menschen wirklich gelangweilt davon, Teil einer Unterhaltung zu sein, die eigentlich nichts anderes als sinnlos ist, die grundlegendste Tatsachen der Realität ignoriert. Da kommt nichts bei raus. Eine Diskussion auch über Themen wie die Klimakatastrophe ist sinnlos mit Menschen, die nicht erkennen, dass der ungestraft geführte genozidale Krieg in Gaza die Überreste der regelbasierten internationalen Ordnung grundlegend umformt. Die Normalisierung dieser Art von Gewalt, die sich ohne Konsequenzen gegen die Institutionen des Völkerrechts stellt, die schiere Dauer der Verbrechen. Man stelle sich einmal vor, Israel steht seit 11 Monaten vor dem Internationalen Gerichtshof und ist wegen Genozid angeklagt. Mehr und mehr Menschenrechtsorganisationen kommen zu der gleichen Erkenntnis. Und die Zerstörung Gazas geht ununterbrochen weiter: Wir sollen uns daran gewöhnen, akzeptieren, dass es keine Möglichkeit gibt, etwas an dieser Situation zu ändern. Es spielt keine Rolle, ob wir auf die Straßen gehen, es spielt keine Rolle, ob die öffentliche Meinung stark dagegen ist, Waffen an Israel zu liefern: Nichts davon hat anscheinend irgendeine Auswirkung auf tatsächliche Politik.

Wenn Worte, Instagram-Slides, Proteste und Aktionen nichts  bewirken und nur als Anlass für permanentes Derailing und Verzerrung von Gewaltverhältnissen herhalten, dann könnte inneres Exil die bessere Alternative sein. Sobald wir akzeptieren, dass Argumente den Diskurs hierzulande nicht mehr beeinflussen, sollten wir besser mit einem anderen Publikum zu einem anderen Zweck sprechen, und uns langfristig organisieren.

Wir brauchen uns gegenseitig. Widerstand kann auch sein, in einer absolut furchtbaren Situation darauf zu beharren, trotzdem noch Freude zu empfinden.

Julia Bosson ist Chefredakteurin des Online-Magazins the Diasporist.

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