Trost

Julia Bosson

Über Krieg und Frieden von Leo Tolstoy

War and Peace (Vintage Classic Russians Series)

„Ich könnte jetzt wunderbare bunte Seifenblasen schreiben; wahre Regenbogenblasen,“ schrieb Joseph Roth in 1925. „Denn man darf doch auch auf einer halben Seite einer Zeitung gültige Dinge sagen?“ Nach diesem Vorbild stellt the Diasporist eine neue Reihe mit dem Titel Seifenblasen vor, in der Redakteure und Autoren Bücher, Filme, Veranstaltungen, Ausstellungen und Ideen in sehr kurzer Form diskutieren.

Krieg und Frieden habe ich aus dem bloßen Wunsch heraus in die Hand genommen, um 1200 Seiten lang woanders zu sein. Wir leben in ausgesprochen schlechten Zeiten, vielleicht lässt sich ja etwas Trost aus Zeiten gewinnen, die ebenfalls schlecht waren, nur aus anderen Gründen.

Trost habe ich tatsächlich allerhand gefunden, wenn auch mehr im Frieden als im Krieg, aber das dürfte niemanden wundern. Geschichte, das ist laut Tolstoi die Summe von Milliarden von Träumen, Aversionen und Leidenschaften – die beständig gegeneinanderprallen und sich so beschleunigen, bis das eintrifft, was wir das Unabwendbare nennen. Tolstoi schrieb damit an gegen die sogenannte „Geschichte der großen Männer“. Wir sind zwar nunmehr im Zeitalter der „starken Männer“ angelangt und tun nicht mehr so, als würden wir unsere Anführer und Staatenlenker bewundern. Aber die einfachen Erklärungen für den Lauf der Dinge, der Affekt, an ausgeklügelte Pläne zu glauben, haben nichts von ihrer Anziehungskraft eingebüßt.

Tolstoi hat seine These recht weitläufig ausgebreitet: Jeder Charakter, sei es ein betrunkener Soldat oder eine Hofdame, betritt die Bühne seines Romans als realer Mensch aus Fleisch und Blut, mit seinen Hoffnungen, mit seiner Geschichte, mit Herzschmerz und Zweifeln, manche auch mit einem Hang zur Geschwätzigkeit. Und auch wenn sie bloß für die Dauer einer Seite leben (und wieder sterben), ist ihr Menschsein kein verkürztes. Selten waren 1200 Seiten so rund und von so irreduzibler Fülle. So der Welt zu begegnen, das ist zugleich bewundernswert wie erschöpfend.

Eine Menge geschieht in der Zeit, die es braucht, einen Roman dieser Länge zu lesen. Regierungen werden gebildet und wieder aufgelöst, Pläne werden gemacht, ausgeführt und wieder vergessen, Enttäuschungen entstehen, erledigen sich von selbst, und entstehen wieder. Menschen haben ihr Leben verloren, und die Zeit ging weiter ihren Gang. Ich hatte gehofft, dass dieser Roman mich verändern würde, aber stattdessen hat sich alles um mich herum verändert. Ein nur schwacher Trost.

„I think of the innocent lives/ Of people in novels who know they’ll die/ But not that the novel will end“, schreibt Mark Strand in seinem Gedicht „Fiction“, (das ich in dieser Zeit gelesen habe):

„The war that raged for years will come to a close,
And so will everything else, except for a presence…
That lets us know without spelling it out
Not to despair; if the end is come, it too will pass.“

Julia Bosson ist Chefredakteurin des Online-Magazins the Diasporist.

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