Stickern gegen Deutschland

Michael Sappir

Antideutsche Linke bekleben Städte mit pro-israelischen Stickern

Collage: Antideutsche Sticker

ENDE AUGUST 2019 BLIEB ICH in Leipzig vor einer blauen Mülltonne stehen. Genauer gesagt wegen eines Aufklebers auf der Tonne. Ich schaute über meine Schulter, holte mein Handy heraus, machte ein Foto, zog den Aufkleber ab und warf ihn in dieselbe Mülltonne, bevor ich weiterging. Der Aufkleber mit seiner ebenso bedrohlichen wie seltsamen Aufschrift war eine deutliche Erinnerung daran, wie die Menschen in meiner Wahlheimat zu dem Land stehen, in dem ich aufgewachsen bin: „Euch wird der Mossad holen“, stand dort neben dem Logo des israelischen Geheimdienstes. „Gegen jeden Antisemitismus“, hieß es weiter, und: „Am Yisrael Chai!“ – eine Transliteration des hebräischen Ausdrucks für „das Volk Israel lebt“ – traditionell bedeutet er so viel wie „lang lebe das jüdische Volk,“ heute ein Schlagwort israelischer Nationalist:innen.

A horizontal sticker with a white background and blue stripes along the top and bottom.
„Euch wird der Mossad holen. Gegen jeden Antisemitismus. Am Yisrael Chai!” Das Logo des Mossad, des israelischen Geheimdienstes.

Einige Monate zuvor war ich nach sechs Jahren in Tel Aviv zum zweiten Mal nach Deutschland ausgewandert und wurde in einen kleinen Leipziger Gruppenchat linker Israelis aufgenommen. Ich schickte das Foto, das ich gerade gemacht hatte, in die Gruppe und schrieb so etwas wie: „Die Leute hier schieben harte Filme.“ Meine neuen Freunde waren verwirrt. Wer spricht in Deutschland Drohungen im Namen des israelischen Geheimdienstes aus? Ein Freund fragte sich, ob der Aufkleber von deutschen Juden stamme, die in einem feindseligen Umfeld Kraft aus dem „jüdischen Staat“ schöpfen – oder vielleicht von Neonazis, die den Deutschen Angst vor intriganten Juden einjagen wollten.

Obwohl man anhand eines Aufklebers selten Gewissheit haben kann, kann man davon ausgehen, dass er einen ganz anderen Ursprung hatte: Mit ziemlicher Sicherheit haben ihn deutsche Jugendliche ohne jüdischen Hintergrund angebracht, er war als Drohung gegen die Nazis gedacht, nicht als Propaganda für ihre Sache. Er weist alle Merkmale des deutschen sektiererischen Philosemitismus aus dem linken Lager auf – auch als Antideutsch bezeichnet.

Antideutsch nannte sich eine Strömung der radikalen Linken in Deutschland in den 1990er-Jahren, die sich im Zuge des Krieges gegen den Terror Anfang der 2000er-Jahre zu einer politischen Formation entwickelte, die außerhalb Mitteleuropas fast unvorstellbar ist: Antikapitalistische revolutionäre Linke, die sich aber für den Staat Israel einsetzen und amerikanische Interventionen im Nahen Osten bejubeln. In den letzten Jahren, da sich immer weniger deutsche Linke aktiv als antideutsch bezeichnen, verwenden Gegner dieser Strömung den Begriff weiterhin für alle, die sich zwar irgendwie links geben, aber lautstark den Staat Israel verteidigen – manchmal sogar für deutsche Unterstützer Israels im Allgemeinen. (Verblüffenderweise bevorzugen die Antideutschen heute die Selbstbezeichnung „ideologiekritisch“, was gegen jede Evidenz suggeriert, dass sie alle vorgefundenen Glaubenssysteme besser hinterfragen als alle anderen.)

Aus dieser Bewegung stammte höchstwahrscheinlich der vom Mossad inspirierte Aufkleber, den ich 2019 entdeckte, der israelische Symbole nicht verwendet, um sich substanziell mit Israel-Palästina auseinanderzusetzen, sondern um innerdeutsche politische Kämpfe auszutragen. Der bedrohliche, bombastische und doch etwas skurrile Stil des Aufklebers veranschaulicht die seltsame Ästhetik der schwindenden antideutschen Jugendszene der letzten Jahre, die ihre „Rebellion“ lange nach Merkels Erklärung, „die Sicherheit Israels“ gehöre zur „deutschen Staatsräson“, fortgesetzt hat.

Trotz aller kognitiven Dissonanzen im Zeitalter der Staatsräson ist dies ein wiederkehrendes Thema in den vielen Aufklebern, die mir im Laufe der Jahre zuerst in der Hochburg der Antideutschen Leipzig und dann in Berlin begegnet sind. In vielen dieser Aufkleber werden Figuren, die Gewalt und Macht repräsentieren, real oder imaginär, oft militärisch und meist männlich, immer aus dem Ausland (vor allem aus Israel) stammend, verwendet, um Antisemiten (oder auch „Antisemiten“) zu bedrohen und eine gewaltsame Opposition gegen den deutschen Status quo und das Nachleben des Nationalsozialismus zu imaginieren:

A square sticker showing a full-color photograph of a modern tank with a massive Israeli flag waving above it. “Shut your scheiß antisemite mouth, you miserable wretch, or I’ll park a Merkava in your dirty fool face.”
„Halt dein scheiß Antisemitenmaul, du Elendsgestalt, sonst park’ ich ‘nen Merkava in deiner räudigen Ottofresse!“ Der Merkava (wortwörtlich: Streitwagen) ist der Hauptkampfpanzer der israelischen Armee.
A screen capture from the film The Big Lebowski, showing the character of Vietnam vet and recent Jewish convert Walter Sobchak pointing a pistol. “ANTISEMITE! YOU’RE ENTERING A WORLD OF PAIN”.
„ANTISEMIT! DU BETRITTST EINE WELT DES SCHMERZES“
An illustration of the characters Asterix and Obelix punching a Roman skywards out of his sandals. “Polish the antisemites’ faces.”
„Antisemiten die Fresse polieren“

Sticker in der Stadt

Wohlgemerkt, antideutsche Jugendliche sind bei weitem nicht die Einzigen, die mit Stickern skurrile und provokante Botschaften verbreiten. Deutsche Städte sind mit ihnen praktisch zugekleistert; Laternenpfähle, Ladenfronten und Toilettenkabinen sind einige der beliebtesten Ziele, aber keine feste Oberfläche im öffentlichen Raum bleibt verschont. Als Form der politischen Praxis hat das Stickern in Deutschland eine lange Geschichte, deren Beispiele bis ins Jahr 1880 zurückreichen. Während des Aufstiegs des Nationalsozialismus in den 1920er- und 1930er-Jahren nutzten sowohl Faschisten als auch Antifaschisten dieses Medium und klebten Aufkleber an Ladenfronten und Briefumschläge.

Heute produzieren und verteilen Gruppen und Organisationen aus dem gesamten politischen Spektrum Aufkleber, aber die enthusiastischsten Stickerkrieger:innen auf den Straßen der Städte sind zweifelsohne Jugendliche der radikalen Linken und der extremen Rechten. Es ist nicht verwunderlich, dass junge Menschen mit marginalisierten politischen Orientierungen die eifrigsten sind: Etablierte Kommunikationskanäle stehen ihnen nicht offen, und ihnen fehlen direktere Wege, um ihre politischen Bestrebungen zu verwirklichen.

Aus einer marginalisierten Position heraus kann das heimliche Kleben von Aufklebern ein Gefühl der Macht vermitteln, eine Möglichkeit, den eigenen Standpunkt für alle sichtbar zu machen. Dies gilt umso mehr, wenn die Aufkleber unverhohlene Gewaltandrohungen enthalten, die man sich persönlich niemals zu äußern wagen würde.

Vulgär, bösartig, unehrlich

Während Aufkleber aller Art mit gewalttätigen Bildern reizen, ist die Rolle der israelischen Streitkräfte und der israelischen Staatsgewalt in antideutschen Aufklebern konkreter: „Jüdische Macht“ steht für direkte antifaschistische Aktionen. Obwohl es in Deutschland keinen Mangel an Neonazis gibt, ist offene Gewalt gegen sie bemerkenswert selten: Der Prozess gegen Lina E. aus Leipzig, die angeblich eine Gruppe bei Angriffen auf die rechtsextreme Szene in Eisenach angeführt haben soll, war eine nationale Sensation und unterstrich, wie ungewöhnlich solche Fälle sind – im Gegensatz zu den ständigen Gewalttaten der Rechtsextremen, die sich meist gegen Migrant:innen richten. Aber Antideutsche können dies kompensieren, indem sie ihre Machtfantasien an einen Comic-Superhelden wie Asterix auslagern – oder an einen realen ausländischen Staat und dessen Militär.

Two circular stickers. On the left, the IDF logo on a black background. On the right, the temple menorah as featured in the Mossad logo printed in blue on a white background. Both stickers feature the Denglish word “Nazihunters” printed in all-caps in a font designed to look like Hebrew.
„Nazihunters“: Das IDF-Logo (links) und die Menora aus dem Mossad-Logo (rechts). Die israelische Staatsmacht wird als proaktive jüdische Gewalt gegen Nazis dargestellt.
A photograph of three modern tanks waving Israeli flags while driving over barren hills, tinted dark blue. “Street war in Ramallah / The tanks are the antifa.”
„Straßenkrieg in Ramallah / Die Panzer sind die Antifa.“

Natürlich gibt es echte und gut bekannte Präzedenzfälle, in denen israelische Streitkräfte Nazis jagten, wie beispielsweise bei der Verfolgung und Auslieferung Eichmanns an Jerusalem. Aber das ist nicht das, womit das israelische Militär sich beschäftigt, und schon gar nicht in Palästina. Für die Antideutschen spielt das jedoch keine Rolle: Für sie ist der israelische Militarismus ein starkes Symbol für, denn innerhalb ihrer manichäischen Zweiteilung von Deutschen und Juden dient die Gewalt des „jüdischen Staates“ als imaginäre Antwort auf den deutschen Faschismus. Es kehrt die traditionelle antisemitische Vorstellung vom sanftmütigen Juden sowie die Begeisterung der Deutschen für militärische Gewalt um.

Entscheidend ist dabei jedoch, dass diese Verherrlichung der Gewalt nicht darauf beruht, irgendwelche Deutschen zu ermächtigen oder zu bewaffnen – nicht einmal die stickernden Antideutschen selbst. Die Verherrlichung Israels externalisiert und löst ein internes Problem der Möchtegern-Antideutschen, einen Widerspruch in den Grundfesten ihres Denkens: Sie lehnen die Militanz der Arbeiterklasse in Deutschland ab, weil sie sie für faschistisch und nicht revolutionär halten – das war der wesentliche Ausgangspunkt der „antideutschen Kritik“. Die Antideutschen hoffen also nicht, eine Massenbewegung auszulösen – eine ebensolche Bewegung wollen sie verhindern. Aber getreu ihrer linken Vorgeschichte vertrauen sie auch dem deutschen Staat nicht.

Die Antideutschen brauchen daher einen externen Hoffnungsträger, auch wenn die Verherrlichung militärischer Macht fest in der schlimmsten deutschen Tradition verwurzelt bleibt. 

Indem sie ihre Hoffnungen auf einen fremden Staat setzen, stehen die Antideutschen in einer langen und berüchtigten Tradition unter Radikalen. Vor fast einem Jahrhundert kommentierte George Orwell diesen „übertragenen Nationalismus“: Unter Intellektuellen, so Orwell, ermögliche er dem, die sich vom Nationalismus ihres eigenen Landes distanziert haben, „sich ungehemmt genau in den Emotionen zu suhlen, von denen sie glauben, sich befreit zu haben. […] Übertragener Nationalismus ist wie der Einsatz von Sündenböcken ein Mittel, um Erlösung zu erlangen, ohne das eigene Verhalten zu ändern.“ (Orwell, „On Nationalism“, Eigene Übersetzung. Yossi Bartal hat diese Passagen
von Orwell in seinem brillanten kurzen Artikel für The Left Berlin auf den Er‐
satznationalismus der Antideutschen bezogen.)

Der Humor der antideutschen Aufkleber veranschaulicht die von Orwell festgestellte Fähigkeit des „übertragenen“ Nationalisten, „viel nationalistischer zu sein – vulgärer, alberner, bösartiger, unehrlicher – als er es jemals für sein Heimatland oder eine andere Einheit, über die er wirklich Bescheid weiß, sein könnte“. Während also tatsächliche israelische Propagandisten vermeintliche Hamas-Anhänger etwa bei der deutschen Polizei melden und meine israelischen Freunde befürchten, dass die Androhung von Verfolgung durch den Mossad tatsächlichen Antisemitismus schüren könnte, verspricht der anti-deutsche Stickerjunge, „einen Merkava-Panzer“ in den „räudigen Fressen“ vermeintlicher Antisemiten zu „parken“.

Feiern für die Sache

Neben „bösartigen“ und „unehrlichen“ Aufklebern, die zu implizieren scheinen, dass die israelischen Streitkräfte gewaltsam gegen Nazis in Deutschland vorgehen sollten, gibt es auch „albernere“ Aufkleber, die sich auf die etwas weniger gewagte, aber real-existierende Praxis der „Partys gegen den Faschismus“ beziehen – also Partys in abgeschotteten, sicheren Nachtclubs mit Antifa-Motto, in denen die politischen Gegner unerwünscht sind.

2022 bin ich in Leipzig bei einem Spaziergang mit meinem Vater auf einen Aufkleber gestoßen, der sich auf diese Kultur bezieht. Was auf ihm sofort ins Auge fällt, ist eine lange israelische Flagge, die offenbar von einigen hinter der Flagge stehenden Personen hochgehalten wird. Auf dem Aufkleber steht „Antiimps wegscootern“. Die Deutschkenntnisse meines Vaters halfen ihm wenig dabei, den bedrohlichen Insiderwitz zu verstehen. 

A long Israel flag over a crowd of figures in streetwear, their faces plastered over with identical images of a smiling man with bleached short hair. “Antiimps wegscootern” or “Scooter away the anti-imperialists.”
„Antiimps Wegscootern“

Investigative Recherchen (sprich: das Foto auf Twitter posten) ergaben eine Erklärung: Das Originalbild zeigte eine militante deutsche linke Jugendgruppe, die eine palästinensische Flagge hochhielt. Das über ihre Köpfe kopierte Gesicht ist das des deutschen Techno-Musikers H. P. Baxxter von der Band Scooter. In Anlehnung an jahrzehntelange Partyplakate, die versprachen, „die Nazis wegzubassen“, stellt dieser Aufkleber die pro-palästinensischen Militanten als reaktionäre Bedrohung dar und eine beliebte Musikgruppe der antideutschen Szene als lustige Waffe gegen sie.

An unflattering photograph of Yasser Arafat, wearing a kaffiyeh, with a Gucci bucket hat sloppily photoshopped onto his head. Behind him and to the viewer’s left is a photograph of Austrian rapper Money Boy. “We wear Gucci, we wear Prada, death to the Intifada!”
„Wir tragen Gucci, wir tragen Prada, Tod der Intifada!“
A blurry tinted photograph of the Spice Girls: “If you wannabe my lover / You gotta stand with Israel”
If you wanna be my lover / You gotta stand with Israel“

Die „antifaschistischen Nachtclubs“ dieser Szene sind eine berüchtigte Front in Deutschlands Kriegen um politische Symbole, die oft über Mode ausgetragen werden. Da explizite Symbole des Nationalsozialismus in der Öffentlichkeit verboten sind, müssen deutsche Faschisten auf verschlüsselte Symbole zurückgreifen, die oft so subtil sind wie die Bevorzugung bestimmter Bekleidungsmarken, beispielsweise Lonsdale- oder Ellesse-Shirts (die so getragen werden können, dass nur die Buchstaben „NS“ oder „SS“ der Marken sichtbar sind). Um den Faschismus in Schach zu halten, mussten diese Symbole identifiziert, stigmatisiert und, wo möglich, verboten werden.

Für die Antideutschen ist seit langem die Keffiyeh ein Thema, ein Modeaccessoire der deutschen Jugend seit den 1970er-Jahren, umgangssprachlich als „Palituch” bekannt, das in den 1990er-Jahren auch bei Neonazis als indirektes Zeichen von Antisemitismus und Antiamerikanismus populär wurde. Trotz seiner breiten Bedeutung in den Kulturen des Nahen Ostens haben antideutsche Aufkleber und rechte Kommentatoren ihn in Verbindung mit dem palästinensischen Kampf zu einem „Symbol des Judenhasses” reduziert.

Durch die Herabwürdigung und Ablehnung kultureller Merkmale wie der Keffiyeh und die Forderung nach der Einhaltung einer ganz bestimmten deutschen Weltanschauung setzen kulturelle und politische Szenen einen rassistischen und fremdenfeindlichen Code um, der von Neuankömmlingen verlangt, sich zu assimilieren und ihre Symbole und Ansichten aufzugeben. Während antideutsche Antifaschisten in Städten wie Leipzig für die Rechte von Migranten gekämpft haben, bezeichnen viele Migranten, insbesondere Juden und People of Color, sie als „ultradeutsche“ Rassisten und Verfechter ihrer eigenen Form der White Supremacy.

The shoulder, mouth, and jaw of a white man wearing a black-and-white kaffiyeh. “Cool kids don’t wear cleaning rags!” The lower-left corner features a take on the Antifascist Action logo featuring the text “Pro-Israelisch” with an Israeli flag with a US flag visible in the background. “Smash antisemitism! Fight antizionism!”
„Coole Kids tragen keine Putzlappen! Smash antisemitism! Fight antizionism!“
Swedish climate activist Greta Thunberg wearing a black-and-white kaffiyeh. “Cool kids don’t wear Pali scarves! Fight antizionism & antisemitism.”
„Coole Kids tragen keine Pali-Tücher! Fight antizionism & antisemitism“

Antifaschistischer Nationalismus

Die insulare, selbstbezogen-deutsche Natur des antideutschen Gedankenguts steht im Widerspruch zu fast jeder anderen Perspektive – sogar zu denen, die sie angeblich schützen will. Ich würde behaupten, dass ein Markenzeichen der antideutschen Aufkleberdesigns ihre peinliche Distanz zu jeglicher jüdischen oder israelischen Subjektivität ist. Diese Distanz zeigt sich besonders deutlich in der wiederkehrenden Verwendung pseudo-hebräischer Schriftarten, die ironischerweise verdammt schwer zu lesen sind, wenn man tatsächlich mit Hebräisch vertraut ist, da hebräische Buchstaben ganz ohne Rücksicht auf ihre eigentliche Bedeutung verwendet werden. Obwohl sie sich in jüdische Kostüme verkleiden, geht es eindeutig um Botschaften über „die Juden”, nicht von oder für Juden als autonome Subjekte. Und das noch vor jeder inhaltlichen Auseinandersetzung.

A photo of a group of Israeli soldiers in full combat gear posing in Gaza’s Palestinian Legislative Council building. Superimposed on this photo, text in a pseudo-Hebrew font, in black with a white outline, reads in German: “fight Islamic domination”. Next to it reads “game over Hamas”.
„Islamistische Herrschaft bekämpfen / Game over Hamas“. Das Foto zeigt israelische Soldaten in der Kammer des Palästinensischen Legislativrates in Gaza Ende 2023, die Flaggen der Golani-Brigade der IDF halten.
A photo of an Israeli flag. Across the top of the photo, a pseudo-Hebrew font set in mid blue with a white outline, reads “For Israel…”. Across the bottom of the sticker: “no peace with the enemies of Israel / Act together against antisemitism and Islamism!”
„Für Israel … Kein Frieden mit den Feinden Israels / Gemeinsam gegen Antisemitismus und Islamismus vorgehen!“

Während manche deutsche Aneignungen und Reproduktionen zionistischer Botschaften nicht unmittelbar mit der antideutschen Strömung in Verbindung stehen, ist die eigenartige Kombination aus kämpferischen zionistischen Botschaften und linken Symbolen das charakteristische Merkmal dieser Bewegung – und unterscheidet sie auch von der lange marginalisierten, aber historischen Tradition des zionistischen Sozialismus. Das mit Abstand häufigste linke Symbol in der antideutschen Synthese ist das allgegenwärtige Logo der Antifaschistischen Aktion (Antifa) mit zwei Flaggen, das seit der Gründung der Antifaschistischen Aktion durch die KPD im Jahr 1932 unzählige Adaptionen erfahren hat. Die beiden Flaggen sind heute meist rot und schwarz (also kommunistisch und anarchistisch), manchmal werden aber auch die Flaggen verschiedener Befreiungsbewegungen integriert.

Während kaum ein Linker bei einem Antifa-Logo mit einer kurdischen oder Pride-Flagge mit der Wimper zuckt, ist nur in Deutschland auch die israelische Flagge häufig an ihrer Stelle zu finden, und zwar in unzähligen Variationen. Die Botschaft ist klar: Der Staat Israel steht an der Spitze der Befreiung, sein endloser Krieg gegen die Palästinenser und alle Völker der Region ist eine Fortsetzung des existenziellen Kampfes der Linken gegen den Faschismus. Mit anderen Worten: stinknormaler außenpolitischer Neokonservatismus – aber in Deutschland kann er mit einer progressiven Innenpolitik gepaart werden sich links geben.

The US flag appears on the left, the Israeli flag on the right, both treated with a grimy filter. Connecting the two of them is an Antifascist Action logo, its flags red and black. “Come to the real antifascist” (sic)
Come to the real antifascist (sic)
Eine Collage aus einer Sammlung von antideutschen Stickern

Alte Sieger und neue Nazis

Im Einklang mit dieser neokonservativen Wende ist der Pro-Amerikanismus eine weitere Besonderheit des antideutschen Gedankenguts. Während die Linke in den meisten Ländern die USA als globalen Unterdrücker betrachtet, sieht das in Deutschland anders aus, nicht zuletzt aufgrund der Rolle Amerikas bei der Niederlage des Nationalsozialismus und der seitdem bestehenden amerikanischen Militärpräsenz. Diejenigen, die sich nach den guten alten, schlechten alten Zeiten zurücksehnen, haben ihren Patriotismus oft gegen diese Präsenz artikuliert – „Ami go home“ – was viele Linke dazu veranlasst hat, sich gegen den Antiamerikanismus zu verwahren. Diese Haltung passt dann natürlich gut zur Fetischisierung Israels als Stellvertreter für die ermordeten Juden Europas: Die Amerikaner haben den Nationalsozialismus besiegt und verteidigen weiterhin seine Opfer – sie sind „die wahren Antifaschisten“.

Aber die ausgedehnte „Feind-meines-Feindes“-Logik in dieser mythologisierten Neuinterpretation des Antifaschismus führt zu einer schrecklich verkehrten Schlussfolgerung: Die Menschen, denen Amerika und Israel heute im Nahen Osten militärisch gegenüberstehen, sind die „neuen Nazis“. Das bringt unsere ehemaligen Antifaschisten in eine unangenehme Position, in der sie Seite an Seite mit der deutschen extremen Rechten stehen, die sie einst bekämpfen wollten – gemeinsam verteufeln sie Migranten wegen ihres angeblichen Antisemitismus und gar Faschismus.

A photo of Palestinian protestors waving a Palestine flag and holding a kite adorned with a graffiti swastika. “Denazify Palestine.”
„Denazify Palestine“. Foto auf dem Aufkleber: AFP/Mohammed Abed, 20. April 2018, zu Beginn des „Großen Marsches der Rückkehr“ in Gaza.
A stylized fist smashing a swastika. The fist is overlaid with the flag of Israel, while the swastika and the splinters coming off of it are overlaid with the Palestinian flag.
Israelische Faust zerschlägt palästinensisches Hakenkreuz.

Wen interessieren schon die Nazis?

Anfang der 2020er-Jahre hatten die Antideutschen bereits deutlich an ihrer früheren Bedeutung innerhalb der Linken verloren, noch bevor der Völkermord in Gaza weltweit Massen für die palästinensische Sache mobilisierte. In Leipzig, wo ich bis Oktober 2023 lebte, hatten Organisator:innen palästinensischer und anderer internationaler Herkunft es geschafft, eine dauerhafte politische Präsenz aufzubauen – ausgerechnet dort, wo sie noch bis vor kurzer Zeit Angst hatten, öffentlich aufzutreten. Der lokale Ableger der Linksjugend, der sich einst stolz der antideutschen Indoktrination widmete, war in Spaltungen und Konflikte gestürzt und stellte seine Aktivität fast ein.

Objektive Bedingungen hatten die Bewegung weit weniger attraktiv gemacht. In den vermeintlich antifaschistischen Avantgarden Amerika und Israel eroberten offene Faschisten nach und nach die Staatsmacht, während aufeinanderfolgende deutsche Regierungen die wichtigste geopolitische Position der Antideutschen – die absolute Hingabe an die militärische Sicherheit Israels – als überkonstitutionelle, grundlegende Mission Deutschlands bekräftigten.

Aber beim Projekt der Antideutschen ging es nie so sehr um Geopolitik, sondern vielmehr um das nationale Selbstverständnis der Deutschen und die Ablehnung der kollektiven Nazi-Vergangenheit. Doch auch die innenpolitischen Verhältnisse waren ihrer Sache nicht förderlich: Die deutschen Rechten und Rechtsextremen hatten gelernt – die AfD allen voran – sich für Pro-Israelismus einzusetzen und einen fremdenfeindlichen „Kampf gegen Antisemitismus“ gegen ihre Kritiker zu instrumentalisieren. Für Außenstehende schien es, als würden die Antideutschen die Agenda der Faschisten vorantreiben, während sie militanten Antifaschismus proklamierten. Viel Glück dabei, die radikale Jugend dafür zu rekrutieren!

Nur wenige Monate vor dem 7. Oktober und meinem gleichzeitigen Umzug nach Berlin machte mir ein weiterer Aufkleber in Leipzig klar, wie sehr die Bewegung nach eigenem Maßstab als Misserfolg zu betrachten ist. „Es heißt Nazi“, stand auf dem Aufkleber, „nicht Israel-Kritiker!“ Vorbei war es mit dem zaghaften „Natürlich kann man Israel kritisieren, aber …“ – Kritik ist nicht nur Judenhass, sondern regelrechter Nazismus. Was ist mit den Nazis im engeren Sinne? Wen interessiert das schon? Das eigentliche Problem sind diese verdammten Einwanderer und ihre linken Freunde.

On a lamppost, a vertical sticker reads “It’s called NAZI, not Israel-critic!” In the path graphic below, “Against any and every antisemitism.”
„Es heißt Nazi, nicht Israel-Kritiker!“ Leipzig, Juli 2023.

Die Verdrängung der Nazi-Schuld hat in der Geschichte der deutschen „Vergangenheitsbewältigung“ viele Formen angenommen. Diese Verdrängung war es, die die frühen Antideutschen kritisierten. Bis heute greifen sie diese Kritik in einigen ihrer Angriffe auf den Antizionismus auf: Angeblich diene die Verurteilung israelischer Gräueltaten in der Gegenwart nur dazu, die Gräueltaten Deutschlands in der Vergangenheit zu verdrängen oder deren Opfer zu diffamieren. Die ultimative Ironie dabei ist jedoch, dass die Antideutschen, die ihr politisches Projekt auf der deutschen Schuld gegründet haben, nun Teil der Verdrängung des Mainstreams geworden sind und ihre Sorge um einheimische Nazis zugunsten des Kampfes gegen Geflüchtete, die sie als „Neue Nazis“ bezeichnen, beiseite schieben. Wie tief die „Ideologiekritiker“ gefallen sind.

Epilog: Keep Arming Israel

Ich bin letzten Winter aus Deutschland in die USA gezogen und habe meine Dokumentation der Sticker unterbrochen. Im Mai dieses Jahres kam ich zu Besuch nach Deutschland, gerade als die Bundesregierung und die Mainstream-Medien sich für einen Moment gegen Israels Völkermord durch Aushungern der in Gaza verbliebenen Überlebenden zu wenden schienen. In den letzten Tagen des israelisch-amerikanischen Angriffs auf den Iran im Juni besuchte ich kurz Leipzig und durchsuchte bekannte Hotspots im wunderschönen Westen der Stadt nach den neuesten Entwicklungen im Aufkleberkrieg. Meine Beobachtungen bestätigten, was mir Freunde vor Ort über die sich wandelnde politische Lage erzählten: Ich sah mehr pro-palästinensische Aufkleber als pro-israelische, was für Leipzig früher, als ich es kannte, noch undenkbar gewesen wäre.

Aber noch sind die Antideutschen nicht ganz verschwunden. Während Israels unaufhörliche völkerrechtswidrige Aggression und der live gestreamte Völkermord eine immer deutlichere Ablehnung durch Aktivisten und die breite Öffentlichkeit in Deutschland hervorriefen und der rechtsgerichtete deutsche Bundeskanzler Merz Israels ebenso rechtswidrigen Angriff auf den Iran als „Drecksarbeit“ bezeichnete, die „Israel für uns alle macht“, gab es in Leipzig immer noch neokonservative pseudo-linke Hardliner, die im Namen des Antifaschismus Faschisten anfeuerten und ihre Kämpfe an Laternenpfählen und Mülleimern austrugen. Waffenlieferungen an Israel stoppen? Halt dein scheiß Antisemitenmaul!

On a lamppost, a small horizontal black sticker states simply “Stop arming Israel”, in English. Covering its very bottom is the square sticker described earlier in this article, showing an Israeli tank and German text reading “Shut your scheiß antisemite mouth, you miserable wretch, or I’ll park a Merkava in your dirty fool face."
„Stoppt Waffenlieferung nach Israel“ – „Halt dein scheiß Antisemitenmaul …“ Leipzig, Juni 2025.
On a lamppost covered in other (non-political) stickers, a blue sticker displays a photo of a warship launching a rocket with a dark blue Star of David in the background. The emblem of the Israeli navy is stamped on the background in yellow. “For the protection of Jewish life and the defense of freedom and democracy!”
„Zum Schutz des jüdischen Lebens und Verteidigung von Freiheit und Demokratie!“ Das gelbe Symbol rechts ist das Emblem der israelischen Marine. Leipzig, Juni 2025.

Michael Sappir ist Organisator und ein Teil der Gründungsredaktion von the Diasporist. Er schreibt auf Englisch, Deutsch und Hebräisch.

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