Ostpreußen ist tot

Oftmals befinden sich die wichtigsten Dinge tief im Gewölbe der unerzählten Geschichten einer Familie.
– Kei Miller, The Old Black Woman Who Sat in the Corner
Meine Großmutter Cäcilie, geboren 1923 und von uns kurz Cilly genannt, war eine kleine, rundliche Frau voller Energie und mit einem lauten, ansteckenden Lachen. Immer aktiv, voller Pläne, immer in Bewegung. Sie sprach mehrere Sprachen: Deutsch, Polnisch, den ermländischen Dialekt und Russisch. Die ersten drei brachte sie aus ihrer Heimat mit. Sie wuchs auf einem Bauernhof im Dorf Lengainen auf, an einem See und inmitten der sanften Hügel des Ermlands – einer ländlichen, katholisch geprägten Region in der Provinz Ostpreußen, bewohnt von Polen und Deutschen. Russisch lernte sie zwangsweise, während ihrer vier Jahre als Zwangsarbeiterin im Ural in der Sowjetunion, wohin die Rote Armee sie im Januar 1945 verschleppte. Ihre Sprache für mich war jedoch immer Deutsch. Meine Brüder und ich hörten immer nur Bruchteile der anderen Sprachen, wenn sie aufgeregt war; Polnisch war für die Besuche ihrer Schwestern reserviert.
Ihr Partner Willi – Cilly und Willi, ich habe mir das nicht ausgedacht – war der Stille. Er wurde 1912 auf einem Bauernhof auf den sandigen Feldern des protestantischen Pommerns an der Ostseeküste geboren. Seine Eltern, die als Pächter ohne Grundbesitz mehr schlecht als recht durchkamen, teilten sich mit ihren acht Kindern die beiden Zimmer einer Holzkate ohne Strom. Ab 1939 diente er als Pionier in der Wehrmacht, wurde während des Überfalls auf die Sowjetunion zweimal verwundet und Anfang 1945 von französischen Truppen gefangengenommen. Wie seine spätere Partnerin verrichtete auch er einige Jahre Zwangsarbeit als Kriegsgefangener, allerdings im Süden Frankreichs. Die Sprache schien er sich dort jedoch nicht angeeignet zu haben: Er sprach nur Deutsch, mit seinen Geschwistern unterhielt er sich im deutschen Dialekt seines Heimatdorfes Zewellin.
Sein Schweigen schien zu ihm zu passen, als hätte er schon viele Jahre vor unserer Geburt alles gesagt, was es im Leben zu sagen gab, und wäre nun zufrieden damit, in seinem grünen Sessel zu sitzen und anderen zuzuhören.
Cilly erzählte meinen Brüdern und mir viel über ihr Leben und ihre Heimat, Geschichten über Schlittenfahrten zur Kirche, Sommerbäder im See, Wölfe im Wald, Besuche in der Großstadt. Es waren faszinierende Erzählungen über eine entfernte Heimat, geteilt mit der Melancholie des Heimwehs, die ich schon als Kind begierig aufsog. Vielleicht lag meine Begeisterung darin, dass wir keine Familiengeschichten hatten, die uns in Solingen, wo wir lebten, verankerten. Meine Großeltern waren die ersten meiner Familie in Westdeutschland; all unsere Familiengeschichten vor ihrer Ankunft spielten sich anderswo in Europa ab. Mein Vater kann Geschichten erzählen von einer abenteuerlichen Kindheit inmitten der Kriegsruinen, die bis in die 1960er-Jahre die westdeutschen Städte prägten, aber mein eigenes Erwachsenwerden inmitten der Hügel des Bergischen Lands war immer von den Geschichten der Hügeln des Ermlands untermalt. Diese Erzählungen waren in vielerlei Hinsicht einseitig: Cilly erzählte mir nur ausgesucht schöne Geschichten, und Willi schwieg völlig. Sein Schweigen schien zu ihm zu passen, als hätte er schon viele Jahre vor unserer Geburt alles gesagt, was es im Leben zu sagen gab, und wäre nun zufrieden damit, in seinem grünen Sessel zu sitzen und anderen zuzuhören.
Trotz ihrer Unterschiede ist die Geschichte meiner Großeltern beispielhaft für viele Vertriebene in Europa nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Sie lernten sich an einem Ort fern ihrer jeweiligen Heimatorte kennen, in Solingen in Westdeutschland. Als ich 1977 geboren wurde, waren Lengainen und Zewellin zu Łęgajny und Cewlino in der Volksrepublik Polen geworden, hinter dem Eisernen Vorhang, für Cilly und Willi unerreichbar, und längst von neuen Menschen bewohnt.

Der Grund, warum sich meine Großeltern im Westen Deutschlands kennenlernten, war, dass Teile ihrer Familien dorthin geflohen waren, entweder vor der vorrückenden Roten Armee oder vor den territorialen Verschiebungen, die auf die Niederlage Nazi-Deutschlands in Europa folgten. Die von Großbritannien, den USA und der Sowjetunion beschlossene Nachkriegsordnung setzte Grenzänderungen und Bevölkerungsverschiebungen durch, aus der Überzeugung heraus, dass „reine“ Nationalstaaten ohne Minderheiten zu einer friedlicheren Zukunft beitragen würden. Winston Churchill sagte in einer Rede im britischen Unterhaus im Dezember 1944: „Denn die Vertreibung ist, soweit wir das bisher beurteilen können, die zufriedenstellendste und dauerhafteste Methode. Es wird keine Vermischung der Bevölkerungsgruppen geben, die endlose Probleme verursacht, wie es in Elsass-Lothringen der Fall war. Es wird reiner Tisch gemacht.“
Ihre Häuser und ihr Hausrat blieben den Neuankömmlingen überlassen, denn die Gebiete wurden wiederum mit Polen besiedelt.
Während der Konferenzen von Jalta und Potsdam im Jahr 1945 vereinbarten Stalin und die westlichen Alliierten, dass Polen ehemalige deutsche Gebiete, die südliche Hälfte der Provinz Ostpreußen sowie die Provinzen Pommern und Schlesien, erhalten sollten. Die deutsche Bevölkerung wurde gewaltsam vertrieben. Diejenigen, die 1945 nicht vor der vorrückenden Roten Armee geflohen waren, wurden von den neuen sowjetischen und polnischen Behörden aufgefordert, nach Westdeutschland oder in die DDR auszuwandern. Ihre Häuser und ihr Hausrat blieben den Neuankömmlingen überlassen, denn die Gebiete wurden wiederum mit Polen besiedelt. Sie wurden selbst gewaltsam vertrieben aus der sogenannten Kresy-Region im Osten des Landes, die zwischen der Ukrainischen, der Weißrussischen und der Litauischen Sowjetrepublik aufgeteilt und im Gegenzug von Litauern und Ukrainern besiedelt wurde. Andere Deutsche wurden aus der Tschechoslowakei, Ungarn, Rumänien und Jugoslawien vertrieben; insgesamt kamen nach 1945 rund 14 Millionen deutsche Flüchtlinge in die westlichen und sowjetischen Besatzungszonen, nach Westdeutschland und in die DDR, und rund sechs Millionen Menschen aus den Grenzen Vorkriegspolens zogen in die sogenannten „wiedergewonnenen Gebiete”. Wie viele Menschen bei diesen massiven Zwangsumsiedlungen ums Leben kamen, ist bis heute unklar. Schätzungen schwanken zwischen 400.000 und zwei Millionen Todesopfern.
1961 war jeder Fünfte in Westdeutschland ein Flüchtling oder Vertriebener. Die offizielle Darstellung der Bundesrepublik war lange, dass ihre Integration reibungslos und ohne Konflikte verlief, was in den letzten Jahren jedoch mehrfach widerlegt wurde, beispielsweise im passend betitelten Buch „Kalte Heimat“ (2008) des Historikers Andreas Kossert. Die Neuankömmlinge stießen auf eine Mauer der Ablehnung und rassistische Vorurteile, die durch zwölf Jahre Nationalsozialismus noch verstärkt wurden. Sie wurden als „Zigeunerabschaum“ oder „Polacken“ beschimpft. Ein beliebtes Karnevalslied in Köln in den 1950er-Jahren hatte den Refrain: „Am dreißigsten Mai geht ein Flüchtlingstransport — wir lachen uns kaputt, dann sind se fott”. Unzufrieden mit einer Rechnung, die ihm ein als Lkw-Fahrer arbeitender Geflüchteter 1949 stellte, erklärte der Gutsbesitzer und Nationalökonom Dr. Wilhelm Weil aus Südhessen: „Alle Flüchtlinge gehören in die Kiste nach Auschwitz!“ Er wurde verklagt und musste 1.000 Deutschmark Strafe zahlen. Meine Großeltern haben nie von ähnlichen Erfahrungen berichtet, aber eine Nichte von Cilly, die jahrelang in einem Flüchtlingslager in Kaiserslautern lebte, erzählte mir, dass ihr Vater von seinen westdeutschen Kollegen als „Pollack“ bezeichnet wurde, obwohl er sich selbst als stolzer deutscher Patriot sah.

Die Integration gelang oft nur mit Zwang. Bezirksbeamte, geschützt durch die Polizei, durchsuchten Dörfer und Städte nach freien Zimmern für die Neuankömmlinge. Andere lebten jahrelang in den Nissenhütten der Flüchtlingslager. Zwei Drittel der Vertriebenen wechselten nach 1945 ihren Beruf; bei Landwirten wie meinen Großeltern waren es sogar 87 Prozent. Willi, der mit 14 Jahren die Schule verlassen hatte, fand für den Rest seines Arbeitslebens eine Anstellung als ungelernter Hilfsarbeiter in der Klingenindustrie in Solingen, Cilly arbeitete im Einzelhandel.
In der DDR existierten die Vertriebenen offiziell nicht. Wie die polnischen „Siedler“ wurden sie in der sowjetischen Zone von der sowjetischen Militärverwaltung offiziell als „Umsiedler” bezeichnet; die DDR-Regierung sprach von „Neubürgern”. Das öffentliche Gedenken an die verlorene Heimat war verboten und erst nach 1989 wieder möglich.
In Westdeutschland hingegen machten einige ihren Schmerz öffentlich. Der staatlich finanzierte Bund der Vertriebenen (BdV) wurde 1957 gegründet und existiert bis heute als Dachverband der Vertriebenenverbände in den deutschen Bundesländern zusammen mit etwa 20 sogenannten „Landsmannschaften” – Heimatvereinigungen, die einzelne Regionen oder Bevölkerungsgruppen der ehemaligen deutschen Provinzen vertreten.
Obwohl diese Organisationen angaben, alle 14 Millionen Vertriebenen zu vertreten, war nur ein Bruchteil von ihnen hier aktiv. Bis 1965 gehörte etwa ein Prozent der Vertriebenen einem regionalen Verband an. Was der BdV und andere Verbände allerdings schafften, war, sich gut zu vernetzen – insbesondere mit den konservativen Parteien CDU und CSU – und eine starke Medienpräsenz zu entwickeln. Die Vertriebenenverbände organisierten Forschungsarbeiten, veranstalteten kulturelle Zusammenkünfte, gaben Publikationen und Bücher heraus und hatten ihre eigenen Zeitungen. Die Preußische Allgemeine Zeitung etwa, heute ein Publikationsorgan der Neuen Rechten in Deutschland, wird seit 1950 von der Landsmannschaft Ostpreußen herausgegeben. Die Liste der Funktionäre des BdV bis Mitte der 1960er-Jahre enthielt auch viele ehemalige Nazi-Funktionäre wie Alfred Gille, Erich Schellhaus oder Karl Stumpp.
In Solingen gibt es Schloss Burg, eine rekonstruierte mittelalterliche Burg, die hoch über den Ufern der Wupper thront und die ich als Kind oft mit Cilly und Willi besucht habe. Ich war immer gespannt darauf, die alten Rüstungen und Schwerter zu sehen, die dort ausgestellt waren, und die Gemälde mit den mittelalterlichen Hochzeiten, Duellen und Schlachten. Aber es gab auch einen Batterieturm auf der Burg, den ich manchmal betrat: In der Mitte stand eine seltsame Gruppe von Statuen, die eine Familie darstellten, umgeben von Wappen und Flaggen an den Wänden. Ich ging immer nur allein hier hinein, da Cilly und Willi nie mitkommen wollten. Heute weiß ich, dass es sich um eines der vielen Denkmäler für den „verlorenen Osten” handelt, die in den 1950er- und 1960er-Jahren in ganz Westdeutschland errichtet wurden. Der 1951 eröffnete Turm in Solingen ist die zentrale Gedenkstätte für Vertriebene in Nordrhein-Westfalen.

Neben diesen offiziellen Gedenkstätten gibt es unzählige Publikationen über die Städte oder Regionen in Pommern, Ostpreußen oder Schlesien, die vom Verband der Vertriebenen oder anderen Institutionen herausgegeben wurden, sowie eine Vielzahl von Büchern – oft von Mitgliedern des preußischen Adels verfasst, die ihre Ländereien im Osten verloren hatten: Marion Gräfin Dönhoff, Christian Graf von Krockow, oder Walter von Sanden-Guja. Es gab aber auch diejenigen, die begeisterte Anhänger des Nationalsozialismus gewesen waren, allen voran die Dichterin Agnes Miegel (1879–1964), ein prominentes Mitglied der NSDAP, die nach 1945 bukolische, folkloristische Lyrik über eine verlorene Heimat veröffentlichte. Sie wurde von ihren Anhängern als „Mutter Ostpreußen” gefeiert und genießt bis heute in gewissen akademischen und kulturellen Kreisen in Deutschland hohes Ansehen. Was in Westdeutschland über Jahre hinweg propagiert wurde, war die Vorstellung vom unersetzbaren Verlust einer ländlichen Idylle, einem „Atlantis des Nordens“, wie es der polnische Dichter Kazimierz Brackonieki nennt.

Bis heute wiederholen die Landsmannschaft Ostpreußen und ihr derzeitiger Sprecher Stephan Grigat bei Versammlungen und Konferenzen den Slogan „Ostpreußen lebt!“. Zum Glück für mich gab es in meinem Großelternhaus keine dieser Publikationen oder Bücher. Sie gingen nie in den Gedenkturm und nahmen nie an Versammlungen der Landsmannschaften teil. Cilly war in einer deutsch-polnischen Familie aufgewachsen, in der zuhause hauptsächlich Polnisch gesprochen wurde. Ihr Bruder Franz hatte sich 1937 freiwillig als Spion für Polen gemeldet. Er wurde 1942 von den Nazis gefasst und hingerichtet. Cilly machte sich keine Illusionen über die Gefahren nationalistischer Utopien der Vergangenheit.
Ostpreußen ist tot, und das ist gut so. Es war die Heimat von Cilly, aber wie die anderen ehemaligen deutschen Provinzen war es keine Utopie, kein Ort einer idealen Zivilisation, die für immer verloren gegangen ist. Nach dem Ersten Weltkrieg war es ein zutiefst konservativer Ort mit großer Armut und großen Vorurteilen, an dem die Nazis schon vor 1933 die Kommunalwahlen gewannen. Meine polnischen Verwandten, die vor 1945 hier lebten, wurden verfolgt und getötet. Ich kann keine Trauer darüber empfinden, dass Ostpreußen für immer verschwunden ist.
Ich bin jedoch Enkel von Vertriebenen und fühle mich verpflichtet, über ihren Verlust zu sprechen. Vielleicht auch, weil der Schmerz meiner Großeltern privat blieb. Für viele andere Familien in Deutschland muss es ähnlich gewesen sein. Ihr Schweigen drückte weniger eine erfolgreiche Integration als vielmehr eine erzwungene aus. Zieh den Kopf ein, arbeite weiter, belästige die Menschen nicht mit deinen Geschichten über die verlorene Heimat. Die Stimmen der Geflüchteten und Vertriebenen waren über Jahrzehnte hinweg in deutschen Büchern, Filmen und in der Musik präsent. Doch die Erkenntnis, dass ein Viertel der weißen Deutschen einen sogenannten Migrationshintergrund hat, fehlt seltsamerweise in der öffentlichen Debatte bis heute.
Meine Großeltern haben mich zum Leser gemacht. Ich habe noch immer das Exemplar von Alexandre Dumas‘ „Die drei Musketiere“, das sie mir 1986 zu Weihnachten geschenkt haben, mit der Widmung „Von deinen Großeltern“ in Cillys verschnörkelter Handschrift. Als ich älter wurde und mein Interesse an der Topografie meiner Familie wuchs, entdeckte ich Schriftsteller, die sich auf brutal ehrliche Weise mit den verlorenen Heimaten und den Gründen für ihren Verlust auseinandersetzten, allen voran Nobelpreisträger Günter Grass aus Danzig/Gdańsk und Siegfried Lenz aus Lyck/Ełk. In den letzten Jahren gab es eine Reihe deutscher Veröffentlichungen von Kindern und Enkeln von Vertriebenen mit öffentlicher Plattform, etwa „Alles, was wir nicht erinnern“ (2022) der Journalistin und ehemaligen stellvertretenden Sprecherin der Bundesregierung Christiane Hoffmann oder „Wir Ostpreußen“ (2025) vom FAZ-Korrespondenten Jochen Buchsteiner.
In vielerlei Hinsicht fangen die zeitgenössische polnische Literatur und Kunst die europäische Erfahrung von Exil, Verlust, Schuld und Entfremdung besser ein als ihre deutschen Zeitgenossen; und können dadurch manchmal auch besser von Hoffnung und der Chance auf Versöhnung erzählen.
Wenn ich aber mehr über die unausgesprochenen Dinge in der Geschichte meiner Familie erfahren möchte, greife ich zu Büchern aus Polen. Hier ist das Thema poniemeckie, also „ehemals deutsch”, in der zeitgenössischen polnischen Literatur wie auch in der Musik und der bildenden Kunst allgegenwärtig. Da sind die Essays von Adam Zagajewski und Tomasz Różycki, aber auch Bücher wie Karolina Kuszyks „Poniemeckie” (2019, auf Deutsch 2022 als „In den Häusern der anderen” erschienen), das erzählt, wie sich die neuen polnischen Siedler mit der übrig gebliebenen deutschen Infrastruktur arrangierten, oder Filip Springers „Miedzianka. Historia znikania” aus dem Jahr 2011 (2019 erschienen als „Kupferberg: Der verschwundene Ort”), das die deutsch-polnische Geschichte der titelgebenden schlesischen Stadt erzählt. Eines der vielleicht besten Bücher über deutsch-polnische Identität und Erinnerung ist Joanna Willengowskas „Król Warmii i Saturna” (König von Ermland und Saturn) aus dem Jahr 2024, eine tief persönliche Geschichte über den deutsch-polnischen Vater der Autorin, geschrieben auf Polnisch, Deutsch und im Dialekt des Ermlands, leider bisher noch nicht übersetzt. Die Region, in der Joannas Vater Zygmunt und meine Großmutter Cilly geboren wurden, dient auch als Inspiration für das 2023 erschienene Album „Singing Warmia” der hier geborenen Künstlerin Zofia Hołubowska. Der erste Titel des Albums trägt den vielsagenden Namen „Forest of the Expelled/Las wypędzonych” (Wald der Vertriebenen). Und in dem Gemäldezyklus „Nocą będę opisywał słońca” (Nachts werde ich Sonnen beschreiben) von Katarzyna Szeszycka aus demselben Jahr ragen die Bäume und die menschliche Infrastruktur des ehemaligen deutschen Pommerns, wo mein Großvater geboren wurde, dunkel und fast bedrohlich aus Nebel und Moor empor. In vielerlei Hinsicht fangen die zeitgenössische polnische Literatur und Kunst die europäische Erfahrung von Exil, Verlust, Schuld und Entfremdung besser ein als ihre deutschen Zeitgenossen; und können dadurch manchmal auch besser von Hoffnung und der Chance auf Versöhnung erzählen.
Die deutsche Erfahrung von Flucht und Vertreibung wurde jahrzehntelang als eine rein deutsche, isoliert von anderen Ländern dargestellt; die Tatsache, dass die Umwälzungen des 20. Jahrhunderts ganz Mitteleuropa betrafen, muss vorerst an anderer Stelle erzählt werden. Die gleiche Unterdrückung und Verschleierung der Vertriebenengeschichte, wie sie in der DDR stattfand, wurde bis 1989 auch in der Volksrepublik Polen gegenüber den Menschen aus dem heutigen Litauen und der Ukraine praktiziert. In Deutschland wurden diese Geschichten nach 1989 durch die Wiedervereinigung und den darauffolgenden (gescheiterten?) Prozess der Staatenbildung überlagert und vielleicht sogar übertönt. Es gab nur wenige Entsprechungen zu den vielen öffentlich gegründeten nationalistischen und rechten Vertriebenenverbänden in Deutschland, die den öffentlichen Diskurs deutlich beeinflussten. Im neuen, demokratischen Polen erhielten die Vertriebenen, ihre Kinder und Enkelkinder mehr Raum. Zusammen mit einem Interesse an der ehemaligen deutschen Architektur und der Topografie, die viele Menschen in Westpolen bewohnen, ist dies vielleicht der Grund, warum das Thema hier nach wie vor aktuell ist.

Es macht mich traurig, dass dies in Deutschland noch nicht der Fall ist. Meine Großeltern und viele ihrer Generation haben ihre Geschichten nur innerhalb der Familie erzählt. Aber das ist verständlich: Ihre Erfahrungen waren typisch für Migration und Exil, Erfahrungen wie sie Millionen Menschen in Deutschland damals und heute gemacht haben und machen. Sie erfanden sich neu, ließen ihr altes Ich und ihre alte Sprache hinter sich und wurden zu dem, was die polnische Schriftstellerin Emilia Smechowski als „Strebermigranten“ bezeichnet, Migranten mit einem starken Integrationsbedürfnis. Sie zogen es vor, sich auf die Gegenwart und die Zukunft zu fokussieren. Aber ihr Schweigen ermöglichte es anderen, zur Stimme der Vertriebenen zu werden, jenen, die eine überaus nostalgische, nationalistisch-revisionistische Ansicht hatten.
In einem Europa, das zunehmend rassistisch und fremdenfeindlich wird, und in einem Deutschland, in dem die Regierung aus CDU/CSU und SPD eine Politik der Ausgrenzung, Abschiebung und geschlossenen Grenzen verfolgt in der falschen Hoffnung, AfD-Wähler zurückzugewinnen, muss ich den Schmerz meiner Großeltern und das ihnen zugefügte Trauma anerkennen – und gleichzeitig akzeptieren, dass der Verlust ihrer Heimat aufgrund der Vernichtungskriege geschah, die Nazi-Deutschland begonnen hatte. Für die Deutschen von heute ist es unerlässlich, die Realität einer vielschichtigen und komplexen Geschichte, vielfältiger Identitäten und mehrerer Heimaten zu akzeptieren, über die Zerrüttung und den Verlust zu sprechen, die viele von uns geerbt haben. Willi starb 2001 und Cilly 2009 – beide ohne jemals ihre Heimat wiedergesehen zu haben. Sie sind heute Seite an Seite in Solingen begraben, einer fremden Stadt, in der sie durch Zufall gelandet waren. Selbst nach dem Fall der Berliner Mauer wollten sie nie in den Osten zurückkehren. Doch seit ihrem Tod haben meine Familie und ich ihre ehemaligen Heimaten einige Male besucht, und ich bin regelmäßig im Ermland zu Gast. Aber wie für so viele andere sind auch meine Toten überall in Europa verstreut. Die Großeltern und Urgroßeltern vieler meiner polnischen Freunde sind in Vilnius oder Lviv begraben. Meine Urgroßmutter Ottilie, die auf dem in den 1930er-Jahren aufgenommenen Foto mit einem verkniffeneren Gesichtsausdruck vor einem Heuwagen hinter anderen Familienmitgliedern zu sehen ist, neben einer grinsenden Cilly links, liegt heute in Barczewo bei Olsztyn begraben, wo sie 1953 starb. Obwohl sie in der Volksrepublik Polen beerdigt wurde, ist ihre Grabinschrift auf Deutsch, wenn auch mit einem Rechtschreibfehler. Vielleicht wurde sie von einem Steinmetz aus dem Osten Polens angefertigt, der mit diesen seltsamen deutschen Wörtern nicht vertraut war.
