Klebstoff und Erinnerung

Stefanie Schüler-Springorum

Wie die überlebenden Opfer des Nationalsozialismus eine Herausforderung für die deutsche Erinnerungskultur darstellen

Austausch der Straßenschilder in Trier, Mai 1945 © US Department of Defense via wikimediacommons.

Anmerkung der Redaktion: Der folgende Beitrag wurde ursprünglich auf der Veranstaltung „Der grosse Kanton: Rise & Fall of the BRD“, die am 5.–6. Dezember in Zürich stattfand, im Rahmen des Panels KINDHEITSMUSTER ODER DAS UNBEHAGEN IN DER ERINNERUNGSKULTUR: NEUE ANSÄTZE IN DER FORSCHUNG präsentiert.

Ich möchte gerne mit einem Zitat von Ralf Dahrendorf beginnen, dem bedeutenden deutsch-britischen Soziologen, u.a. Mitglied des House of Lords und auch sonst jeglicher linker Umtriebe völlig unverdächtig: „Vielleicht ist es zuletzt doch diese Mischung von theoretischer Humanität und praktischer Unmenschlichkeit, die Deutschland zuweilen so unerträglich macht…, die Missachtung der Schwachen und Wehrlosen… gepaart mit einem maßlosen Geschwätz über Humanismus und Humanität, wie kein anderes Land es kennt“. Ich vermute, dieses Zitat würden hier und heute viele sofort unterschreiben. Es stammt allerdings aus dem Jahre 1965, ist also sechzig Jahre alt – und dass es ausgerechnet von Ralf Dahrendorf stammt, einem scharfen Beobachter der westdeutschen Nachkriegszeit, ist kein Zufall.

Denn Ralf Dahrendorf, der in einer sozialdemokratischen Familie aufwuchs, hatte die Verfolgung und Verhaftung seines Vaters miterlebt und wurde die letzten Kriegsmonate in einem Arbeitserziehungslager festgehalten. Insofern ist seine Biografie typisch für all jene, die nach dem Krieg über die Folgen des Nationalsozialismus nachdachten und dabei auch die Perspektive seiner Opfer mit in den Blick nahmen. Dies waren nicht viele. Wenn man sich mit dem Umgang der ehemals Verfolgten in der Nachkriegszeit beschäftigt, so fällt auf, dass bis weit in die 1960er-Jahre hinein immer dasselbe Dutzend Namen auftaucht: Juristen, Politiker, Publizisten und Verbandsfunktionäre – oftmals jüdisch, aber nicht immer –, die sich in ihren verschiedenen Funktionen für die Rechte der Überlebenden einsetzen, für Sozialhilfe, Gesundheitsversorgung, Entschädigung, Gerechtigkeit. Sie alle hatten die Brutalität des NS-Regimes nicht nur am eigenen Leib erfahren, sondern, wenn sie wie Philipp Auerbach oder Eugen Kogon die Lager überlebt hatten, auch das Leid der noch Schwächeren mitansehen müssen, derjenigen ohne jede öffentliche Stimme, auch nach 1945. Deshalb setzten sie sich für Sinti und Roma ein, für ehemalige Zwangsarbeiter, für Homosexuelle. Das soll nicht heißen, dass es innerhalb dieser sehr kleinen Gruppe nicht auch soziale Vorurteile gegeben hätte, aber diese hinderten sie eben nicht daran, solidarisch zu handeln. Es bleibt dabei: Die einzigen, die sich nach 1945 für die Überlebenden einsetzten, waren selbst ehemals Verfolgte. Dies muss man erst einmal zur Kenntnis nehmen, bevor man sich mit dem Thema „Erinnerungskultur“ beschäftigt. Schon allein deshalb gibt es keinen Grund, auf irgendetwas stolz zu sein und es ad nauseam in Gedenkreden zu wiederholen. Stattdessen wäre erst einmal eine Phase der Demut angesagt und des Lesens und Lernens, in dem man sich z.B. mit den Erinnerungen der NS-Opfer an die Zeit nach 1945, an die ersten Nachkriegsdekaden beschäftigt. Bücher und Dokumente darüber gibt es zuhauf.

Wenn man sich damit auseinandersetzt, wird man schnell merken, dass es noch viel weniger Grund gibt zur deutschen Selbstbegeisterung, wie sie die Erzählung der erinnerungskulturellen Entwicklung against all odds ermöglicht. Aus dieser Perspektive stellen sich die ersten vier Jahrzehnte der Geschichte der Bundesrepublik gewissermaßen als fly over decades dar.

Oder sie lebten ein unauffälliges stilles Leben, trauten sich aber manchmal tagelang nicht vor die Haustür, weil ein Nachbar es anscheinend amüsant fand, ihnen, den Auschwitzüberlebenden, einen Lieferwagen mit der Aufschrift „Mengele“ vor die Tür zu stellen.

In diesen ersten vierzig Jahren aber geschah sehr viel: Sehr viele ehemals Verfolgte starben in Armut, aus Krankheit, durch Selbstmorde oder „aus Herzeleid“, wie ein Neffe über seine Tante schreibt. Oder sie lebten ein unauffälliges stilles Leben, trauten sich aber manchmal tagelang nicht vor die Haustür, weil ein Nachbar es anscheinend amüsant fand, ihnen, den Auschwitzüberlebenden, einen Lieferwagen mit der Aufschrift „Mengele“ vor die Tür zu stellen. Wenn man diese Jahre also aus der Perspektive der überlebenden Opfer des NS-Regimes betrachtet, wie ich es kürzlich versucht habe, so ergibt sich ein ganz anderes Bild der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft: Es wird deutlich, dass der Kern des völkischen Zusammengehörigkeitsgefühls, das im Nationalsozialismus zwar nicht erfunden, aber doch propagandistisch überhöht und praktisch ausagiert wurde, auch nach 1945 erstaunlich intakt blieb – und dies trotz Niederlage und Besatzung, oder vielleicht gerade deshalb, wie Hannah Arendt schon 1947 vermutete. Denn bei genauerer Betrachtung war dies gar nicht so erstaunlich, ermöglichte es den Deutschen im Westen des geteilten Landes doch zunächst einmal das beruhigende Gefühl, das nicht alles schlecht, nicht alles falsch gewesen war in den Jahren zuvor: Die alten Feindbilder standen stabil: der Antikommunismus, der changieren konnte zwischen Antisemitismus und anti-slawischem Rassismus sowie all dessen, was man unter Sozialrassismus zusammenfassen kann: also die Verachtung der sogenannten „Asozialen“, der psychisch Kranken oder körperlich Eingeschränkten, der Hass und Ekel gegen Homosexuelle – all dies lässt sich nicht unter dem Begriff der „White Supremacy“ zusammenfassen, denn es greift sehr viel tiefer in das soziale Gewebe der Gesellschaft ein bzw. konturiert eine sehr viel umfassendere Vision der Ungleichheit. 

Und die Berechtigung all dessen wurde sich eben nicht nur Mittwochabends am Stammtisch gegenseitig bestätigt, sondern täglich, immer wieder im Alltag ausagiert, gegenüber den Nachbarn und den Mitschülern, auf den Wohnungs- und Sozialämtern, bei der Polizei und der Ausländerbehörde. Dies kann man alles in den Erinnerungsberichten nachlesen und zudem in einer wachsenden Zahl von Lokalstudien, die voll sind von aus den Archiven gehobenen Details, die einem schlicht den Atem rauben: wie z.B. der Fall der „arisierten Obstbaumwiese“, die einem jüdischen Überlebenden, der in sein nordhessisches Heimatdorf zurückgekehrt war, nach einem längeren juristischen Streit wieder zugesprochen wurde. Seine Nachbarn taten sich daraufhin zusammen und fällten nachts alle Obstbäume, bevor sie zurückgegeben werden konnten. Dies hat eine andere Qualität als nostalgische Kriegserinnerungen oder das Lob der deutschen Autobahn. Hier tobt sich eine Aggression aus und diese Aggression richtete sich gegen alle der genannten Gruppen, auch wenn man mit der Zeit lernte, dass man gegenüber Juden etwas zurückhaltender sein musste. Die Geschichte mit dem „Mengele“-Wagen stammt übrigens aus den 1960er-Jahren.

Antisemitismus und Rassismus dienten, so meine These, als Klebstoff, der den Deutschen den Übergang in die Demokratie erleichterte, gerade weil sie eigentlich weder ihren Wertekanon noch ihre nationale Selbstwahrnehmung wirklich in Frage stellen, geschweige denn ändern mussten, sondern sie vielmehr im täglichen Ausagieren gegen die „Schwachen und Wehrlosen“ bekräftigen konnten.

Es ist wichtig, sich klarzumachen, dass die Rede von der „Elitenkontinuität“, von den alten Nazis in den Ministerien und Gerichten, bei der Polizei und an den Universitäten das eine ist: die Geschichte der „Belastungen“ der „jungen Demokratie“. Aber diese „Belastungen“ waren nicht nur unschön, sie hatten ganz konkrete Folgen für ganz konkrete Menschen – über Jahrzehnte hinweg. Und sie hatten eine Funktion: Antisemitismus und Rassismus dienten, so meine These, als Klebstoff, der den Deutschen den Übergang in die Demokratie erleichterte, gerade weil sie eigentlich weder ihren Wertekanon noch ihre nationale Selbstwahrnehmung wirklich in Frage stellen, geschweige denn ändern mussten, sondern sie vielmehr im täglichen Ausagieren gegen die „Schwachen und Wehrlosen“ bekräftigen konnten.

Es sind die Westbindung und das Wirtschaftswunder, die gemeinhin für die gelungene Demokratisierung der Westdeutschen verantwortlich gemacht werden. Die „Werte-Persistenz“ (um bei der Alliteration zu bleiben) in Form eines völkisch gefassten Überlegenheitsgefühls gehört dazu. Zudem sind dessen tragende Elemente, Antisemitismus und Rassismus, auch den beiden anderen Faktoren eingeschrieben. 

Die Westbindung, für die die sogenannten „Wiedergutmachungszahlungen“ an Israel gewissermaßen als notwendiger Obolus stehen, war von Anfang an auch mit antisemitischen Ressentiments behaftet: So unterstützten nur 11 Prozent der Westdeutschen diesen Versuch, geschehenes Unrecht anzuerkennen, die große Mehrheit sah, so scheint es, keine Notwendigkeit, auf diese Weise wieder „gut zu werden“. Die Zeit spielte ihnen dabei in die Hände, denn die meisten NS-Opfer wurden ohnehin nie entschädigt, da sie schon tot waren, als manche Zahlungen, wie etwa die für Zwangsarbeiter, Jahrzehnte später in Gang kamen. Ähnlich lukrativ war die Verknüpfung zwischen Wirtschaftswunder und Rassismus: Denn nicht nur wurde den seit den 1950er-Jahren nun als „Gastarbeiter“ angeworbenen ausländischen Arbeitskräften die schwersten, ungesundesten, unfallträchtigsten Arbeiten zugewiesen, sondern man meinte sich auch noch aus den 1940ern gut daran zu erinnern, dass sie „aufgrund ihrer Natur“ mit menschenunwürdigen Unterkünften prima zurechtkämen. Da boten sich mancherorts die noch vorhandenen ehemaligen Zwangsarbeitsbarracken geradezu an. So verdiente man doppelt und dreifach: an geringem Lohn für schwerste Arbeit, billigstmöglichen Unterkünften und der erhofften Möglichkeit, die Menschen bei Unfall, Krankheit und im Alter wieder „nach Hause“ schicken zu können.

Kurzum: Ich plädiere dafür, ganz bescheiden, unsere erinnerungskulturellen Bemühungen zu erweitern und die Nachkriegsgeschichten der im Lande verbliebenen Opfer und ihrer Nachfolger miteinzubeziehen. Dann allerdings wird sich das Bild dieses Landes deutlich verändern und Antisemitismus, Rassismus und Sozialrassismus als Kontinuitäten sichtbar werden, die bis heute das Gefüge eines deutschen Überlegenheitsgefühls mitstabilisieren, auch wenn es sich vordergründig nurmehr auf die Autoindustrie bezieht. Zugleich wäre dieser Fokus auf die Nachkriegserzählungen andockfähig für alle Jugendlichen und alle Familiengeschichten: Alle könnten ihre Großeltern oder Eltern befragen oder sich zumindest identifizieren mit jenen, die noch bis in die 1960er-Jahre mittels der Ausländerpolizeiverordnung von 1938 reglementiert wurden. Die Erinnerungskultur würde nicht mehr in diejenigen zerfallen, denen sie gehört, und in die anderen, die sie erlernen müssen, ohne sie sich aneignen zu dürfen. Wir würden eine andere Geschichte der Bundesrepublik bekommen und eine vielfältigere Auseinandersetzung mit einer langen Vergangenheit, die sich, bald hundert Jahre später, nicht nur auf jene zwölf mörderischen Jahre in Schwarz-Weiß beschränken lässt.

Anfangen ließe sich ganz einfach damit, indem wir an die wenigen mutigen Menschen erinnerten, die sich auch nach 1945 dagegenstellten, gegen die unwürdige Behandlung der so wenigen Überlebenden, und damit über die Jahrzehnte einen wesentlichen Teil zur langfristigen Liberalisierung dieses Landes beigetragen haben – und dies unter prekären Umständen: „Wenn ich mein Büro verlasse, betrete ich feindliches Ausland“, hat der hessische Generalstaatsanwalt Fritz Bauer, einer der Bekanntesten dieser wenigen, einmal gesagt. Heute, wo diese Liberalisierung gefährdet ist, ist das Wissen um ihre Entstehung und um den Preis, der dafür gezahlt wurde, umso notwendiger.


Erinnerungen von Überlebenden:

Eckhardt, Ulrich, Andreas Nachama (Hrsg.). Jüdische Berliner. Leben nach der Schoa. Berlin: Jaron Verlag, 2003.

Florian, Reinhard. Ich wollte nach Hause, nach Ostpreussen. Das Überleben eines Deutschen Sinto. Berlin: Stiftung Denkmal für die Ermordeten Juden Europas, 2012.

Frankenberger, Tamara. Wir waren wie Vieh. Lebensgeschichtliche Erinnerungen ehemaliger sowjetischer Zwangsarbeiterinnen. Münster: Verlag Westfälisches Dampfboot, 1997.

Frankenthal, Hans. Verweigerte Rückkehr. Erfahrungen nach dem Judenmord. Berlin: Metropol Verlag, 2012.

Franz, Romeo, Alexandra Senfft. Großonkel Pauls Geigenbogen. Die Familiengeschichte eines preußischen Sinto. München: Goldmann, 2024

Laumer, Angelika. Am Horizont. Kinder von NS-Zwangsarbeiter_innen und das alltägliche Erinnern und Vergessen in der deutschen ländlichen Gesellschaft. Weinheim: Beltz Juventa, 2024.

Rockel, Manfred, Hella Wertheim. Immer alles geduldig getragen. Als Mädchen in Theresienstadt, Auschwitz und Lenzing, seit 1945 in der Grafschaft Bentheim. Nordhorn: Museumverein für die Grafschaft Bentheim, 1993.

Rosenberg, Otto. Das Brennglas. Berlin: Verlag Klaus Wagenbach, 2012.

Spiegel, Paul. Wieder zu Hause? Erinnerungen. München: Ullstein, 2003.

Tuckermann, Anja und Hugo Höllenreiner. „Denk nicht, wir bleiben hier!” Die Lebensgeschichte des Sinto Hugo Höllenreiner. München: Hanser, 2005. Wagner, Patrick. Displaced Persons in Hamburg. Stationen einer halbherzigen Integration 1945 bis 1958. Hamburg: Edition Temmen, 1997.

Stefanie Schüler-Springorum ist Historikerin und seit 2011 Direktorin des Zentrums für Antisemitismusforschung. Zuvor leitete sie zehn Jahre das Institut für die Geschichte der deutschen Juden in Hamburg. Seit 2012 ist sie zudem Ko-Direktorin des Selma Stern Zentrums für Jüdische Studien Berlin-Brandenburg, seit 2020 Sprecherin des Berliner Standorts des Forschungsinstituts Gesellschaftlicher Zusammenhalt. Ihre Forschungsfelder sind die deutsche, jüdische und spanische Geschichte der Neuzeit.

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