Imagine Hamas

Anmerkung der Redaktion: Der folgende Text geht auf einen Vortrag zurück, der im Rahmen von “Der grosse Kanton: Rise & Fall of the BRD” am 5. und 6. Dezember in Zürich gehalten wurde. Er wurde in einem Panel präsentiert, das unter anderem staatliche Massnahmenpolitik, die in offenen Widerspruch zu Empirie, wissenschaftlichem Codex und Gesetzeslage steht, untersuchte.
Es gibt Unterirdisches, vielleicht ein Kraftfeld oder Tunnelsystem, das alltäglich und banal wirkmächtig ist. Das Untergründige prägt die Oberwelt, das Nicht-Sichtbare das Beobachtbare. Der Paneltitel „Angst essen Seele auf, oder Gefährliches Wissen, Staatsdiskurs und Realitätsverleugnung“ verweist auf eine solche untergründige Struktur der Angst, wie sie in der BRD derzeit wirksam ist. Es gibt diffuse oder sehr konkrete Ängste, das heißt Affekt- und Fantasiewelten, die Seelen aufessen und dabei völlig in Besitz nehmen – oder auch Regierungshandeln, Haltung zum Völkerrecht, Verfahrensweisen der Öffentlichkeit und Wissenschaft, bis hin zur Wahrnehmung der Alltagswelt. Um eine alltägliche Wahrnehmung geht es hier, und wie sie von Ängsten und Angstmobilisierung geprägt ist. Aus der Wirkmacht des Untergründigen entsteht „Realitätsverleugnung, die in alltäglicher Kommunikation auf den Sozialen Medien nachvollzogen werden soll. Das Untergründige stellt massenhaft Zugänge ins Phantasmatische her – Zugänge zu einer Weltsicht, die die „Angst“ an die Oberfläche bringt, konkretisiert und handlungsleitend macht. Es geht um Traumwelten, paranoide Welten, Realitätsfluchten, die hochfunktional und alltäglich verwertbar sind.
„Stellt euch einfach vor, hier kommt die Hamas rein“ – diesen Satz sagte Ulf Poschardt, Herausgeber der Springer Gruppe, am 30. Mai 2025 auf den sogenannten Wiener Kongressen, einer Veranstaltung, die Milo Rau im Rahmen der Wiener Festwochen kuratiert hatte. Poschardt schleuderte den Satz gegen das Publikum, das er in einer 12-minütigen Rede eingehend beschimpfte. Seine Rede widmete er der IDF. Ich schlage vor, Poschardts Satz zu verstehen wie das Imagine von John Lennon. Wo Lennon „Imagine all the people“ sang, sagte Poschardt „Imagine Hamas“ – ein utopischer Einwurf, der untergründige Angst in konkrete Bedrohung umwandelt und dann eine überall notwendige Gegenwehr evoziert. Er tat dies in der Absicht, die Kriegsverbrechen Israels nicht nur nachvollziehbar zu machen, sondern vorbildhaft. Der Satz gibt Terrorismus, Islamismus, die „neuen Nazis“ (Netanjahu), Antisemitismus oder „das absolute Böse“ als dauernd auffindbar aus und beschwört „Hamas“ als handlungsleitende Vorstellung direkt hier, am Ort und im Moment.
Es ist in gewisser Hinsicht das dominante Paradigma der gegenwärtigen BRD, in der immer und überall „die Hamas reinkommen“ kann – mit einem Social Media Post, einem offenen Brief oder einer fehlenden „Verurteilung von Hamas“.
„Stellt euch vor, hier kommt die Hamas rein“ ist Aufforderung zum Rollenspiel und Einladung in ein Phantasma. Poschardt möchte vom Publikum der Veranstaltung, dass sie in sein Vorstellungsparadigma einsteigen. Es ist in gewisser Hinsicht das dominante Paradigma der gegenwärtigen BRD, in der immer und überall „die Hamas reinkommen“ kann – mit einem Social Media Post, einem offenen Brief oder einer fehlenden „Verurteilung von Hamas“. Man kann das „kulturell Imaginäres“ nennen oder Massenpsychose – hier soll es als memetischer oder memefizierter Diskurs bezeichnet werden. Memetisch deshalb, weil diese phantasmatische Wahrnehmung in der Alltagskommunikation auf den sozialen Medien dominant und damit direkt zur Meinungsäußerung, zum Post, zum Meme verwertet werden kann. Das Phantasma hilft Menschen im Alltag, die Realität zu verarbeiten und auch umzudeuten – während sie passiert oder schon bevor sie passiert.

Eine Beispielszene für das alltäglich verwertbare Phantasma findet sich um Silvester 2023, das ich auf Twitter verfolgte. Zwei Monate nach dem 7. Oktober, dem Massaker der Hamas und den Zeitungsmeldungen über vermeintlichen Jubel ihrer vermeintlichen Sympathisanten in Neukölln, bereitet sich Berlin auf die Silvesternacht vor. Neukölln wird zum Brennpunkt durch Berichterstattung und Polizeipräsenz. Eine Böllerverbotszone wird errichtet und der Zugang zum Stadtviertel an Passierpunkten kontrolliert. Neben NIUS-Dauerbeschallung über kriminell-böllernde Ausländer berichtet der Springer-Journalist Gerrit Seebald (@garstigergerrit) live vor Ort. Über Twitter bereitet er sein Publikum auf den Ausnahmezustand vor und postet am 31.12.2023 ein Video von einem der Checkpoints: „Zugang zur Sonnenallee in Neukölln abgesperrt. Polizei durchsucht jeden der die Böllerverbotszone betreten will. #B3112“. Nutzer Frisch Army (@Frisch630157) arbeitet im Kommentar das Phantasma heraus: „Der Gaza-Streifen mitten in Berlin“. Das kleine Grenzregime in Neukölln – Zäune, Kontrollen, Polizeipräsenz, die Furcht vor Ausschreitungen und Böllerterror durch palästinensische Jugendliche/Hamas – wird von Nutzern der Plattform Twitter sofort erkannt und gemäß der Möglichkeiten – „Hamas“, „Gaza“ oder „Terror ist überall“ – interpretiert. Weitere Akteure übernehmen den phantasmatischen Handlungsleitfaden: Ein neurechter Video-Streamer namens Max (@derbasierteste) sendet ebenfalls live aus der erwarteten Kampfzone an der Sonnenallee. In seinen Live-Posts, die er die ganze Silvesternacht veröffentlicht, beschwört er einen Krieg zwischen Neuköllner Hamas-Fans und der Polizei herbei. Die Parallelen zu Israel und Gaza gehen leicht von der Hand, alles passiert gleichzeitig bzw. spiegelbildlich:
„Während in #Neukölln immer wieder Gruppen junger Männer und linke Aktivisten antisemitische Parolen brüllen, wird #TelAviv und der Süden #Israels durch die radikalislamistische #Hamas in diesen Minuten erneut bombardiert. #Silvester #B3112 #NK3112“

Die Bomben dort sind die Böller hier, und das halluzinatorische Spiel wird auf Twitter lebhaft durchgearbeitet. Die Szene „Silvester 2023“ steht vielen weiteren Nutzern zur phantasmatischen Verfügung. Thorsten Alsleben (@BerlinReporter) von der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (INSM) postet als Kommentar auf den Böller-Polizeieinsatz „Little Gaza formerly known as Neukölln“, der Nutzer Insulaner (@WurbsAndreas) kommentiert eskalativ darunter: „Berlin is going to be big Gaza. This is supported by the German Government“. Berlin oder Neukölln sind also Gaza 2, ein Ort wo man einerseits nicht hinauskommt und wo andererseits der Terror regiert, durch Migration, Hamas, usw. Ein Gaza of the Mind entsteht, das von zahllosen Nutzern gemeinsam fantasiert und ausgemalt wird. Der Wunsch ist so stark, dass man wie Max@derbasierteste real zur Sonnenallee wandert, um dort mit Handy und Streamer-Equipment zu dokumentieren, was man sich wünscht: Dass die „Hamas hereinkommt“, dass die Berliner Polizei wie die IDF eingreifen muss, um den Bomben- oder Böllerterror zu stoppen.


Der phantasmatische Raum bietet zahlreiche Möglichkeiten zur weiteren Identifikation an: Neukölln ist Gaza, also ist Deutschland Israel; Migranten sind Hamas, daher sind deutsche Polizistinnen die IDF; Migranten sind antisemitische Terroristen, daher sind Deutsche israelische Juden, und so weiter.
Solche Tweets, von denen es hunderte gibt, buchstabieren aus, was in Polizeisperren, Passkontrollen und Verdächtigungsdiskursen seit dem 7.10.2023 angelegt ist: Neukölln sei ein abgeriegelter oder abzuriegelnder Raum, in dem andere Verhältnisse gelten, andere Maßnahmen angewendet werden müssen – ein Gaza 2, ein Freiluftgefängnis, ein Hort des islamistischen Terrors mit Silvesterböllern. Der phantasmatische Raum bietet zahlreiche Möglichkeiten zur weiteren Identifikation an: Neukölln ist Gaza, also ist Deutschland Israel; Migranten sind Hamas, daher sind deutsche Polizistinnen die IDF; Migranten sind antisemitische Terroristen, daher sind Deutsche israelische Juden, und so weiter. Es gibt endlose Möglichkeiten die Silvestersituation, den Clash von Polizei und Jugendlichen, von Deutschen und Migranten, entlang des Phantasmas „Neu-Gaza“ zu lesen und für das eigene Polit- oder Twitterprojekt zu verwenden.

Twitter-Nutzer malen sich Ereignisse, Maßnahmen oder Verhältnisse aus, mit KI oder mit Memes: Eine Straße liegt in Trümmern, dahinter der Fernsehturm; eine memetische Überblendung von Neukölln mit Mordor aus Der Herr der Ringe. Die Bilder und Tweets sind mehrdeutig, haben mehrere Zwecke: Sie können darstellen, was man erwartet – Berlin liegt in Trümmern –, was man sich wünscht – Neukölln soll in Trümmern liegen – oder woran man sich erinnert – Berlin lag schon einmal in Trümmern, jetzt wieder. Man kann das Phantasma mythisieren und „Polizei gegen Palästinenserinnen in Neukölln/Gaza“ als Schlacht um Mittelerde umschreiben. Die Polizei sind Tolkiens Reiter von Rohan, das migrantische Neukölln mit seiner phantasmatischen Hamas ist Mordor. Das ist auch witzig und memetisches Alltagshandeln auf Social Media, das versucht, eine Realität von Genozid und deutschem Rassismus auszublenden, sich darüber lustig zu machen, oder eben die Realität eines Vergeltungskriegs und eines rassistischen Überwachungsregimes als Ganzes zu verwerfen.
Völlig ambivalent nutzt Twitter-User Nasnspray@RonnyOhl2 das Neukölln/Gaza-Phantasma: Zur Überschrift „Berlin Neukölln 01.01.2024“ postet er eine Fotografie zerstörter Häuser im nördlichen Gaza-Streifen, die im November 2023 im Guardian veröffentlicht wurde. Vielleicht ist es eine satirische Übertreibung der NIUS-Agitation, ein übertriebenes Ausbuchstabieren des Phantasmas, vielleicht aber auch Wunsch nach der Vernichtung in Gaza, die zur Vernichtung in Berlin werden soll. In jedem Fall ist es aber eines, nämlich Verarbeitung und Verwerfung der realen Bilder der Zerstörung – ihre Derealisierung und Ausblendung bei gleichzeitiger Wahrnehmung und Anerkennung. Zerstörung geschieht (oder soll geschehen) in der Berliner Nachbarschaft und zugleich in einer anderen Welt.


Der Meme-Vorgang „Stellt euch vor, hier kommt die Hamas rein“ oder „Neukölln ist Klein-Gaza“ ist phantasmatisches Alltagshandeln. Es hat hohen Gebrauchswert in Politik, Öffentlichkeit, Medien. Das Phantasma hilft bei „to be OK with genocide“, wie es auf der Konferenz in Zürich hieß. Von dem Phantasma und seinem Nutzen für Akteure zu sprechen ist keine „linke Verschwörungstheorie“, wie die NZZ diesen Beitrag zur Konferenz Rise and Fall of the BRD beschrieben hat. Es ist eine Annäherung an die untergründigen Vorstellungswelten (bei Poschardt oder sonst wem), die derzeit mitbestimmen, was in der deutschen Oberwelt getan, beschlossen und ganz generell wahrgenommen wird.



