Im Garten Feuilleton

Diedrich Diederichsen

Das Geländer der Schöngeistigen in der neuen deutschen Polit-Matrix

26.2.1988 Bundesratssitzung © Bundesarchiv (Deutschland)

Anmerkung der Redaktion: Der folgende Beitrag wurde ursprünglich auf der Veranstaltung „Der grosse Kanton: Rise & Fall of the BRD“, die am 5.–6. Dezember in Zürich stattfand, im Rahmen des Panels (KEIN) DENKEN OHNE GELÄNDER OR: THE MEDIA AND THE DISINTEGRATION OF THE POLITICAL PUBLIC SPHERE präsentiert.

ICH BIN GEFRAGT WORDEN, über das deutsche Feuilleton zu sprechen. Diese Aufgabenstellung erscheint mir plausibel. Wenn man sich für den Niedergang der BRD interessiert, ist das Feuilleton allein schon deswegen verdächtig, eine besondere Rolle bei diesem Niedergang gespielt zu haben, weil es das Feuilleton nur in der BRD gab oder gibt. Es ist ein spezifischer Sonderfall des Publizierens von Schöngeistigen für eine relativ große Öffentlichkeit; ein Garten, Gewächshaus, auch Museum, in dem Diskurse gezüchtet, gepflegt, aber auch abgeschnitten, verknappt und verboten werden und so Öffentlichkeit strukturieren.

Die Idee, dass alle Formen des Denkens und Diskutierens, die dem politischen Ernst des Lebens zugrunde liegen und im politischen Teil der Zeitschrift seriös, aber auch tendenziös, oder mindestens strategisch behandelt werden, im Feuilleton offen und spielerisch untersucht werden können, ja, wenn man so will: frei, klingt nicht nur auf den ersten Blick sehr schön und geradezu menschenfreundlich, wie eine Entspannungsübung im festgefahrenen Betrieb, wie Mittagspause und Yoga, ja wie eine abgemilderte Version der ästhetischen Grundregel der westlich-bürgerlichen Kunstautonomie: Die Welt ein zweites Mal, aber anders.

Der Preis dieser Schönheit war aber die klar territorial und ideologisch festgelegte politische Linie des restlichen Blattes, der Umstand, dass etwas Kühnes nicht an sich, sondern als Feuilleton-Text im Rahmen einer ansonsten so oder so positionierten Publikation zu lesen war

Das so bestimmte Verhältnis von Ernst zu Lockerung, von Konsequenzialität zu Spiel hat natürlich seine Probleme. Natürlich mutet es paradiesisch an, dass es eine Zeit gab, nennen wir sie die 1970er, in der eine große deutsche Tageszeitung ihr Feuilleton mit einer eineinhalbseitigen Besprechung eines Bresson-Films aufmachte – oder einem Porträt Josef von Sternbergs, obwohl der nicht einmal einen neuen Film gedreht hatte. Der Preis dieser Schönheit war aber die klar territorial und ideologisch festgelegte politische Linie des restlichen Blattes, der Umstand, dass etwas Kühnes nicht an sich, sondern als Feuilleton-Text im Rahmen einer ansonsten so oder so positionierten Publikation zu lesen war und es stets der Großzügigkeit der eigentlichen Berichterstattung über Wirtschaft und Macht dankbar sein musste, von dem es abhängig war.

Seit es – ungefähr nach dem Ende der alten BRD – Mode ist zu glauben, es gäbe rechts und links nicht mehr, oder die alten Rahmen passten nicht mehr zur Strukturierung der Öffentlichkeit nach dem vermeintlichen Ende der Geschichte, verschwinden diese Groborientierungen der das Feuilleton ausrichtenden Zeitungen vorübergehend und es kommt zu Neu-Ausrichtungen. Die gewissermaßen „organisierte“ Weltfremdheit des feuilletonistischen Schöngeistes wird durch die allgemeine journalistische Forderung nach Gegenwartsbezug ersetzt. Darüber hinaus: Sarkasmus und Ironie folgen auf den schönen Geist, auf bürgerlichen Idealismus und mehr oder weniger linke Ideologiekritik. Das Feuilleton soll jetzt zum einen die kulturell-technologisch-öffentlichkeitsstrukturelle Zukunft ermitteln und/oder ein Teil von ihr werden, zum anderen den Hipster- und Pop-Journalismus eingemeinden bzw. ersetzen – also Diskurse, die aus unterschiedlichen Gründen gezielt gegen dieses Feuilleton entstanden sind. Gerade beschäftigen sich zwei neue Bücher, die Oral History des Pop-Journalismus von Erika Thomalla und Western Dissidenz von Philipp Goll über Petra und Uwe Nettelbeck mit den verschiedenen Formen eines Schreibens gegen das Feuilleton.

FAZ und SZ tauschen damals im großen Stil Mitarbeiter:innen ihres jeweiligen Feuilletons gegeneinander aus – um den Leser:innen klar zu machen, dass es die Sicherheit eines politischen Lagerdenkens nun nicht mehr geben solle. Diese Zeit wird durch viele neue Projekte und gleichzeitig die zunehmende Wahrnehmung eines nahen Endes von Print geprägt. Hektische Innovationen und autoritär-charismatische Redaktionsleitungen prägen diese Phase. 

Nach dieser Phase, die vielleicht bis in die mittleren 00er-Jahre reicht, vermischen sich nach und nach drei neue Einflüsse mit den alten Beständen. Erstens die erst nur geahnte Erkenntnis, dass es einen neuen Öffentlichkeitstypus in der digitalen Kultur gibt, dem es nicht mehr um Inhalte als solche geht, sondern nur noch um die Organisation und die Grade des Beteiligtseins des seine Daten abliefernden Publikums. Partizipation ist das neue Spektakel, war damals meine Parole. Wer schlau sein wollte, sprach von Algorithmen und deren Gleichgültigkeit. Diese beschränkte sich nicht auf Schönheit, Moral und Kritik, sondern erstreckte sich auch auf die Sphäre der traditionellen Politik. Derweil starben die Druckerzeugnisse. 

Zweitens der Niedergang eines alten ideologiekritischen oder bildungsbürgerlichen Habitus über die Zwischenstation eines Schrumpfstrukturalismus, der statt falschen Inhalten immer nur noch falsche rhetorische Figuren kritisieren wollte, auch weil das so gut zu dem technokratischen Jargon der digitalen Öffentlichkeitstheorien passte. Man war dann gegen Relativierungen, Vergleiche, Täter-Opfer-Umkehr, Whataboutism oder gleich Cancelling, ohne sich genötigt zu fühlen noch zu diskutieren, was da geancelt oder relativiert wurde. Denn es kann ja gute Gründe geben, eine Täter-Opfer-Beschreibung umzukehren, weil sie z.B. nicht stimmt. Eine als Whataboutism geschmähte Denkfigur kann die völlig respektable Klage über das Messen mit zweierlei Maß zum Ausdruck bringen.

Zunehmend bestimmen wieder Gesetze und Vereinbarungen, die sich auf Rhetoriken, Wortverwendungen etc. beziehen, in einer an der Architektur digitaler Öffentlichkeit orientierten Weise, was Worte bedeuten.

Schließlich drittens schießt in die Selbstsicherheits- und -verständnis-Lücke der ökonomischen und technologischen Infragestellung gut eingeführter Sinnstiftung und auch Kritik im Garten Feuilleton eine neue Staatsförmigkeit und auch Staatsnähe. Zunehmend bestimmen wieder Gesetze und Vereinbarungen, die sich auf Rhetoriken, Wortverwendungen etc. beziehen, in einer an der Architektur digitaler Öffentlichkeit orientierten Weise, was Worte bedeuten. Das Problem sind weniger verhindernde Akte von Zensur, Ausschluss und Unterdrückung von Meinungsfreiheit in klassischem Sinne (die auch zunehmen), sondern eine Mischung von Labelling, Rhetorik-Checklisten, heruntergekommener Ideologiekritik und juristisch gedachter Bedeutungsfixierung. Sie regulieren nicht nur allgemein den Content, sondern prägen im Feuilleton speziell seine so geliebten und in zahllosen Legitimationsdiskursen gefeierten Debatten: nicht nur zum Gaza-Krieg, zu Erinnerungspolitik, zur Deutung von Kunstwerken der letzten documenta oder zur Legitimität der Einladung von Bands zu teilstaatlich geförderten Festivals, deren Bassisten bei BDS unterschrieben haben.

Dies sage ich als jemand, der erstens so genannte Political Correctness meist verteidigt hat gegen die reflexhafte Referenz auf den natürlich gewachsenen Schnabel – als eine in und gegen Institutionen ausgehandelte Würdigung eines Standes der Dinge z.B. in Sachen Antirassismus, Feminismus. Und ich sage es wiederum auch als jemand, der in nichtreguliertes, new-journalistisches Schreiben große Investments hatte und hat. Ich beklage also weder einfach nur Regulierung, sondern eine bestimmte, historisch gewachsene ideologische Regulierung als interessierte Diskursverknappung. Und ich setze dem nicht einfach die Rekonstruktion der Idylle Feuilleton entgegen, sondern die Erfahrungen und Lektionen von vielen Jahrzehnten recht unterschiedlicher Formen von Rebellionen gegen das Feuilleton, von innen wie außen.

Dabei ist es aber wichtig sich klar zu machen, was das „Geländer“ des Feuilletons jeweils ist und war. Welches waren die selten explizit benannten politischen Positionen der alten BRD vor 89 und zu was haben sie sich seitdem hin zur Gegenwart entwickelt. Vor welchem Hintergrund spielt das Feuilleton – das früher an einer langen und jetzt an einer kurzen Leine von diesen Positionen aus Gassi geführt wird. (Wobei offensichtlicherweise einige Positionen sich mehr und länger ein Feuilleton leisten konnten als andere).

Klassische Polit-Matrix der BRD

MITTE

1.Es gibt einen hegemonialen Westen/Kolonialismus/US-Imperialismus. 

2.Wir sind daran beteiligt als Täter/Verstrickte.

3-Und das ist gut so. Bringt Liberalität. Meinungsfreiheit. Wohlstand.

LINKS

1. Es gibt einen hegemonialen Westen/Kolonialismus/US-Imperialismus.

2. Wir sind daran beteiligt als Täter/Verstrickte.

3.Das ist nicht gut so. Verschärft Ausbeutung und Ungleichheit.

RECHTS

1. Es gibt einen hegemonialen Westen/Kolonialismus/US-Imperialismus.

2. Wir sind dessen Opfer.

Neue Polit-Matrix von Deutschland

ANTIDEUTSCH/MITTE/LIBERAL

1.Es gibt einen hegemonialen antiliberalen Anti-Westen, mit der Basis China/Putin/Iran und dem Überbau Hamas, Greta Thunberg, Judith Butler, BDS, Israelfeinde und dem Postkolonialismus als Sonnenallee der Geisteswissenschaften.

2. Wir weißen, liberalen, pro-israelischen Deutschen sind dessen – baldige – Opfer (weil wir unsere Täterschaft aufgearbeitet haben).

3. Konsequenz: Mehr Verteidigung, Militarisierung, Disziplinierung (und Bürokratieabbau).

LINKS/DEKOLONIAL

1. Es gibt einen hegemonialen Westen mit Tendenz zum Faschismus.

2. Wir sind als Linke und/oder Leute mit Kolonial-/Migrationsgeschichte/-herkunft deren Opfer.

3. Konsequenz: Aktivismus (keine staatskompatible Perspektive mehr, vielleicht Gegenkultur).

RECHTS

1. Es gibt einen hegemonialen dekadenten, nicht-weißen, muslimisch-feministisch-identitätspolitischen, queeren Westen/Süden, der sich im Schwimmbad nicht benehmen kann.

2. Wir, sowie die Russen, die Christen, Israel und die Buren sind dessen Opfer.

3. Konsequenz: Staatsübernahme, Machtergreifung.

Diedrich Diederichsen ist Kulturwissenschaftler und Kritiker. „Das 21. Jahrhundert“, eine Anthologie seiner Essays und Kommentare, erschien im März 2024 bei Kiepenheuer&Witsch.

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