Der Krieg ist zu Ende, und
Ghayath Almadhouns Lyrik bewegt sich entlang der Bruchlinien unserer Zeit. Der in Damaskus geborene Dichter lebt heute in Stockholm und Berlin. In seinen Gedichten lotet er die Spannungen zwischen Zugehörigkeit und Vertreibung aus, zwischen dem Streben nach Freiheit und dem Nachwirken autoritärer Gewalt.
Almadhouns Werk bleibt von den Realitäten, die es beschreibt, nicht unberührt. Im vergangenen Jahr sah der Lyriker sich wiederholt mit den Grenzen des Sagbaren und mit Zensur konfrontiert. Die Absage einer Veranstaltung zur Veröffentlichung der Lyrik-Anthologie Kontinentaldrift – Das Arabische Europa im Berliner Haus für Poesie machte unmissverständlich deutlich, wie eng der Raum für palästinensische Stimmen hierzulande geworden ist. Die Anthologie war als Hommage an die Vielfalt arabischer Perspektiven angelegt. Stattdessen wurde sie in einer politischen Debatte aufgerieben, die künstlerischen Ausdruck zunehmend nach starren politischen Kriterien bemisst. Für Almadhoun war diese Episode eine bittere Erinnerung daran, dass der Kampf gegen politische Repression nicht einfach mit dem Ortswechsel endet.
Almadhouns Gedichte spiegeln diesen Zustand. Sie sind zugleich Zufluchtsort und Schlachtfeld, durchzogen von persönlichen und politischen Elementen. In How I Became… wird Trauer zur Ware und die Verarbeitung persönlicher Verluste zu einem universellen Gefühl von Absurdität gesteigert. Mit schwarzem Humor und schonungsloser Beobachtungsgabe verwandelt Almadhoun sein eigenes Trauma in ein Sinnbild für eine Welt voller Brüche.
In If We Were in a Virtual World nimmt er die Leserin mit in eine dystopische Landschaft. Mit eindringlichen Metaphern verwischt das Gedicht die Grenzen zwischen Realität und Fantasie. Der Krieg wird zum mentalen Schrapnell, auch wenn die Waffen längst zur Ruhe gekommen sind. Groteskes und Alltägliches stehen sich hier direkt gegenüber. Aus diesem Spannungsfeld erwächst die Anklage des Autors gegen die Komplizenschaft und gegen das Schweigen – eine Haltung, die in Deutschland heute lautstark nachklingt.
Almadhouns Werk verkörpert somit ein poetisches Ethos: die Auseinandersetzung mit dem Unaussprechlichen. Seine Gedichte suchen die Schönheit und den Humor inmitten von Verzweiflung und öffnen den Blick auf eine Welt, die von Krieg und Gleichgültigkeit gezeichnet ist. Sie machen die Ränder der Menschlichkeit sichtbar.
– Einführung von Hanno Hauenstein
Wie ich … wurde
Ihre Trauer fiel vom Balkon und zerbrach, sodass sie eine neue Trauer brauchte, als ich sie zum Markt begleitete, war die Trauer unvorstellbar teuer, ich riet ihr, eine gebrauchte Trauer zu kaufen, wir fanden eine Trauer, die fast neu war, wenn auch ein wenig zu weit, und einem jungen Dichter gehört hatte, der letzten Sommer Selbstmord beging, wie uns der Verkäufer erzählte, ihr gefiel die Trauer, und wir beschlossen, sie zu nehmen, wir verhandelten mit dem Verkäufer über den Preis, und er sagte, er würde uns als Geschenk eine Sorge aus den Sechzigerjahren dazugeben, wenn wir die Trauer kauften, wir wurden uns einig, und ich freute mich über diese unverhoffte Sorge, als sie meine Freude spürte, sagte sie: Sie ist für dich. Ich steckte die Sorge in meine Tasche, und wir machten uns auf den Weg, abends erinnerte ich mich an sie, nahm sie aus der Tasche und betrachtete sie prüfend, sie war, obwohl schon ein halbes Jahrhundert in Benutzung, von hoher Qualität und in einem guten Zustand, dem Verkäufer war ihr Wert sicher nicht bewusst gewesen, sonst hätte er sie uns nicht einfach zu der abgenutzten Trauer eines jungen Dichters dazugegeben, noch mehr freute ich mich aber darüber, dass es sich um eine existenzielle Sorge handelte, professionell gearbeitet mit höchst präzisen und wundervollen Details versehen, sie hatte sicher einem Intellektuellen mit enzyklopädischem Wissen oder einem früheren Gefangenen gehört, als ich sie zu benutzen begann, wurde die Schlaflosigkeit zu meiner täglichen Gefährtin, und ich wurde ein leidenschaftlicher Unterstützer von Friedensverhandlungen und hörte auf, Verwandte zu besuchen, die Autobiografien in meiner Bibliothek nahmen zu, und nur selten äußerte ich eine Meinung, die Menschen wurden mir wichtiger als die Heimat, und ich begann, eine generelle Langeweile zu verspüren, doch am meisten fiel mir auf, dass ich zum Dichter wurde.
2013 – Aus dem Arabischen von Larissa Bender
Lebten wir in einer virtuellen Welt
Obwohl das Fenster virtuell ist, sind die Toten echt.
Khaled Soliman Al Nassiry
1. Der Krieg ist zu Ende
Der Krieg ist zu Ende, aber in meinem Kopf fallen die Bomben noch immer.
Lebten wir in einer virtuellen Welt
Hätte ich das Fenster, das auf dein Haus blickt, mit einer elektronischen Zeitung geputzt
Und die Plastikrose, die ich auf das Grab meines Bruders gelegt habe, wäre gewachsen.
Der Krieg ist zu Ende, und die Freunde, die auf den Markt gingen, um einen frischen Tod zu kaufen, wurden auf dem Weg getötet.
Lebten wir in einer virtuellen Welt
Hätte ich meine Freunde recycelt,
Denn ich brauche gebrauchte Freunde.
Der Krieg ist zu Ende, und die Toten sind wohlbehalten zu ihren Familien zurückgekehrt. Die Märtyrer kehrten im Ganzen zu ihren Müttern zurück, die Mütter kehrten nach Hause zurück, die Häuser, die Straßen, die Moscheen, die Augen, die Füße, die Körperteile kehrten zu ihren Besitzern zurück. Die Finger kehrten zu den Händen zurück, die Ringe zu den Fingern, die Schulen zu den Kindern. Die Wäscheleinen kehrten zu den Balkonen zurück, die Verliebten zu den Dächern, mein Bruder kehrte zu meiner Mutter zurück, und ich bin nach Damaskus zurückgekehrt.
Lebten wir in einer virtuellen Welt,
Würde ich vergessen, mich an den Krieg zu erinnern
Und ich würde mich daran erinnern, ihn zu vergessen, wie die Toten die Gesichtszüge des Generals vergessen
Und wie die Märtyrer sich an den Weg nach Hause erinnern.
Der Krieg ist zu Ende, und alle, die ich kannte, sind tot, oder Kriegsverbrecher oder tote Kriegsverbrecher.
Lebten wir in einer virtuellen Welt,
Würde ich den Krieg ausschalten wie du den Fernseher.
Aber wir wurden in einer Hurenwelt geboren,
Und wenn der Mensch in einer Hurenwelt geboren wird, verwandelt sich die Zeit in eine Schreibmaschine,
Und die Toten werden zu Gedichten.
Komödiantische Anmerkung:
Das Genie Dantes liegt im Limbo verborgen. Denk mal darüber nach, dann begreifst du sofort, dass wir im ersten Kreis der Hölle leben.
(Schnitt)
2. Krieg
Ich habe versucht, dir den Krieg aus einer semitischen in eine indoeuropäische Sprache zu übersetzen, und da wurdest du von Splittern getroffen. Ich habe versucht, dir zu helfen, da umzingelten uns die Nachrichten. Der Sicherheitsrat versuchte, uns intelligente Waffen zu schicken, doch sie wurden von den nur wenig intelligenten Sicherheitskräften konfisziert. Wir beschimpften das Rote Kreuz, da protestierte der Vatikan. Wir aßen das Fleisch von Hunden, deren Besitzer getötet worden waren, da protestierten die Umweltschützer. Wir wurden vor dem Ertrinken gerettet, da protestierte die europäische Rechte.
Wie soll ich dir erklären, wie sehr diese Welt den Schlägen magerer Hände gegen die dicken Wände der Gaskammern in den Vernichtungslagern gleicht, ohne dass du ein posttraumatisches Belastungstrauma bekommst? Wie soll ich dir den Unterschied zwischen Haussklaven und Feldsklaven erklären, ohne dass du Syrien und Surrealismus verwechselst? Wie soll ich dir in einem einzigen Gedicht sagen: Meine Freunde wurden unter Folter getötet, und du bist schöner als New York, ohne dass Lorca in seinem Grab lacht oder sich die Poesie von der Realität abtrennt?
Tragische Fußnote:
Das Problem dieser Welt ist nicht, dass ein Viertel der Weltbevölkerung zum Psychiater geht. Das Problem ist, dass der Rest nicht geht.
(Schnitt)
3. Schach
Als der Wind vorbeiwehte, fand er den Baum nicht, und die Axt blickte zu mir, während ich zwischen den Sprachen verloren war, ruhig wie der Waffenstillstand auf einem blauen Planeten festhängend, in einem weit entfernten Vorort der Milchstraße. Ich sah, wie eine Gazelle einen Wolf riss und ihr das Blut von den Zähnen tropfte. Ich sah unfruchtbare Frauen, die tot geborene Föten stillten. Ich sah eine elektronische Fliege aus Twitter herausfliegen und um die Leichname meiner Freunde schwirren. Ich sah ein Land in einem Fischerboot fahren und einen Mann das Fleisch seines toten Bruders essen. Nicht metaphorisch wie im Koran, sondern einen Mann, der die Leiche seines bei der Bombardierung getöteten Bruders isst, um nicht zu verhungern. Der Wind wehte vorbei und fand den Baum nicht, fand die Stadt nicht, fand das Land nicht. Weder bellten die Hunde noch zog die Karawane vorbei. Meine verwitwete Ehefrau schaut zu mir, und der Krieg ist sauber wie das Schachspiel. Die Ölfässer steigen im Preis und die TNT-Fässer sinken auf die Städte hinab, die Flugzeuge lecken an Schulbüchern und nuckeln an Kinderfingern. Und ich bin so still wie ein europäischer Bürger, der die Privilegien der Ersten Welt genießt und sich mit der Unschuld eines Hauswolfs fragt, was schwieriger zu ertragen ist: der schwedische Winter oder der arabische Frühling?
Absurde Fußnote:
Die New York Times sagt: Milch ist weiß. Paul Celan sagt: Milch ist schwarz.
Meine Mutter sagt: Es gibt keine Milch!
(Schnitt)
4. Eine Metapher aus einer virtuellen Welt
Dante hatte recht. Diese Komödie, die wir erleben, ist göttlich. Oder, um fair zu sein, sagen wir, sie ist mindestens zu siebenundneunzig Prozent göttlich. Wie willst du sonst erklären, dass alles um uns herum einer Metapher aus einer virtuellen Welt entstammt!
Die Blumen machen Sex durch Bienen!
Adolf Hitler war Vegetarier!
Wir sind glücklich, weil die Vereinigten Staaten von Amerika keine Atombombe auf Tokio warfen!
Diktatorenunterstützer demonstrieren für ein Demonstrationsverbot!
Ich liebe dich!
Gott verkauft das Land, das voller Milch und Honig ist!
Finnland ist laut Weltglücksbericht das glücklichste Land der Welt!
Das Kreuz, das um deinen Hals hängt, ist nichts als ein römisches Folterinstrument!
Tragikomische Fußnote:
Weil am Ende alle sterben, ist die Sterberate in Schweden und Syrien gleich hoch.
(Schnitt)
2020 – Aus dem Arabischen von Larissa Bender