Er fühlt sich schon tot

Soldantenliteratur kennt zwei Tonfälle: die der Heldenballade, kühn im Kampf gegen den Feind im Namen von Wasauchimmer, oder den Höllenreport voller zynischer Anti-Helden, die „willkommen im Dreck“ grummeln. Der Ukrainekämper Koń, die Hauptfigur aus Szczepan Twardochs Nulllinie, ist für Heldenmut zu klug und für Zynismus zu sehnsüchtig. Er will einfach nicht sterben.
Der entfremdete Warschauer Intellektuelle ist nicht an die Front gegangen, weil sein Land das nächste Opfer Russlands sein könnte, sondern weil sein Großvater Ukrainer war, UPA und das ganze Programm, und weil er – entfremdeter Warschauer Intellektueller eben – sich eh schon tot fühlt.
Twardoch selbst hatte schon lange über vergangene Kriege geschrieben, als in seinem Nachbarland einer ausbrach. Der Armee trat er nicht bei – er lebt ja auch nicht in Warschau, sondern in Pilchowice –, aber er ging trotzdem an die Front, als Autor.
Das Ergebnis seiner Erfahrungen ist ein Roman wie eine einzige lange Angstattacke irgendwo in der Ostukraine. Erinnerungen an frühere Leben, schaurige Armycomedy, historische Schichten, Horniness und Ekel, und, wenn Starlink funktioniert, schmerzhafte Textnachrichten aus der Welt da draußen, legen sich wie Blei auf jede lange Sekunde.
Irgendwo im Funkrauschen begraben liegen Fragen, “warum” oder “wie”, vielleicht auch Antworten. Aber für sie gibt es keinen Platz in der Kriegskultur. Sie werden fast lustvoll verweigert, bis jedes Argument gegen diese Kriegskultur wie ein Argument für sie funktioniert. Selbst ein Monster wie der Ausbilder in Full Metal Jacket kann, wie der Autor Anthony Swofford schreibt, junge Trottel aus Sacramento so beeindrucken, dass sie wegen ihm erst recht dienen wollen. Der leere Autoritarismus von Befehlsketten, die bedrückende Realität von Versorgungsketten: ergiebige Themen für alle, die schreiben können und nicht jeden Scheiß glauben.
Twardoch glaubt nicht jeden Scheiß. Sein Blick mag der eines selbsthassenden, betont europäischen Liberalen sein, unpolitisch ist er nicht. Sein Protagonist sieht die Korruption und den Faschismus, und zwar nicht nur in den Neonaziabzeichen einiger seiner Kameraden. Er windet sich, ist abgestoßen, aber die zwingenden Rückschlüsse schiebt er auf, denn allein diese Männer stehen zwischen ihm und einer russischen Kugel oder Drohne. Vielleicht gibt es dereinst eine Antwort, jetzt geht es um Leben und Tod. Wir sind schließlich im Krieg.Aber Twardoch ist kein Fußsoldat im Dreck, er ist ein Schriftsteller an seinem Schreibtisch. Ist es nicht sein Job, weiterzudenken? Wäre das nicht auch, so peinlich das klingt, Mut? Vielleicht. Vielleicht kann man sich auch gerade nicht mehr erhoffen als ehrliche Verwirrung – und nicht zu den Toten zu gehören.