Der Dammbruch heißt Kontinuität

Mina Jawad

Wenn historische Skandale zum Alltag gehören

Hubert Airy, visualisation of the scintillating scotoma of his migraine, from “On Nervous or Sick-Headache” (1870). From Royal College of Surgeons England, accessed through Public Domain Image Archive.

Wieder ein „Dammbruch“. Wieder Empörung, Proteste, warnende Stimmen aus Politik und Gesellschaft. Wieder wird vor einem „Rechtsruck“ gewarnt. Doch wer die politischen Entwicklungen der letzten Jahrzehnte kohärent verfolgt hat, der erkennt: Nichts bricht und ruckt plötzlich. Es setzt sich nur fort, was längst angelegt war.

Die Rede vom „Rechtsruck“ suggeriert einen unerwarteten, abrupten Wandel – als sei die politische Landschaft Deutschlands urplötzlich nach rechts gekippt. Doch diese Vorstellung verklärt die Kontinuitäten, die tief in der politischen Kultur der Bundesrepublik verwurzelt sind. Was heute als Tabubruch diskutiert wird, hat eine lange Vorgeschichte.

Vergessen scheint auch der Dammbruch, als sich Thomas Kemmerich von der FDP in Thüringen 2020 mit Stimmen von CDU und AfD zum Ministerpräsidenten wählen ließ, um eine Wiederwahl des linken Amtsinhabers Bodo Ramelow zu verhindern.

Die nicht endende „Migrationsdebatte“ gab es bereits in den frühen 1960er-Jahren. In den 1980ern und 1990ern war es die bürgerliche Mitte, die Bedrohungsszenarien heraufbeschwor. Es war von „Flüchtlingsmassen“ die Rede, von einem angeblichen Kontrollverlust. Diese Debatte mündete 1992 im sogenannten „Asylkompromiss“ mit Stimmen der Union, FDP und SPD. In den „Baseballschlägerjahren“ wurde die Verschärfung der Rechtslage von einer Welle rechter Gewalt begleitet. Besonders in Erinnerung bleiben die rassistischen Ausschreitungen im August 1992 in Rostock-Lichtenhagen vor einem Wohnheim für ehemalige Vertragsarbeiter aus Vietnam und der Brandanschlag von Solingen, dem 1993 fünf Menschen türkischer Abstammung zum Opfer fielen.

Auch als Wahlkampftaktik war rechte Stimmungsmache nie ein Tabu. Ministerpräsident Roland Koch machte in Hessen 1999 gegen die doppelte Staatsbürgerschaft mobil, fachte Ressentiments gegen migrantisierte Menschen an — mit Erfolg. Die CDU gewann die Wahl. Jürgen Rüttgers setzte kurz darauf nach: „Kinder statt Inder“ lautete seine rassistische Parole, mit der er als Spitzenkandidat der CDU in Nordrhein-Westfalen gegen Zuwanderung aus dem Ausland agitierte. Vergessen scheint auch der Dammbruch, als sich Thomas Kemmerich von der FDP in Thüringen 2020 mit Stimmen von CDU und AfD zum Ministerpräsidenten wählen ließ, um eine Wiederwahl des linken Amtsinhabers Bodo Ramelow zu verhindern.

Auch das Erstarken der noch jungen AfD ist nicht im luftleeren Raum entstanden. Erhebungen aus der Sozialforschung haben schon lange vor ihrer Gründung 2013 darauf hingewiesen, dass eine Partei rechts von der Union das Potenzial auf einen Rückhalt im zweistelligen Prozentbereich hätte. Als erste Partei seit Jahrzehnten ist es der AfD gelungen, dieses Potenzial zu erschließen.

Medien und Politik in Deutschland haben es der AfD über Jahre hinweg leicht gemacht, den Rückhalt zu verfestigen. Dabei ist besonders der deutsche Journalismus einem Mechanismus erlegen, der auch in linksliberalen Kreisen den Umgang mit rechten Entgleisungen am Stammtisch prägt: Beschwichtigung, Verharmlosung, das routinierte Herunterspielen rechter Umtriebe. Ihnen entgegengetreten wird häufig erst dann, wenn die bürgerliche Ratio sich in ihrem ästhetischen Empfinden gestört sieht. Gleichzeitig wurden rechte „Talking Points“ normalisiert, indem Medien durch die Setzung dessen, was als relevant gilt, Realitäten konstruierten, die das Faktische verzerren. Ein prägnantes Beispiel dafür ist der Dauerbrenner der sogenannten „Clan-Kriminalität“, die statistisch lediglich einen Promillebereich aller in Deutschland begangenen Straftaten umfasst. Eine medienkritische Auswertung des Online-Portals „Übermedien“ hat ergeben, dass der renommierte Fernsehsender „Spiegel TV“ zwischen 2013 und 2024 durchschnittlich alle drei Monate Beiträge zur „Clan-Kriminalität“ ausstrahlte. Durch diese gezielte Gewichtung und mediale Rahmung wird verzerrt, was tatsächlich den sozialen und gesellschaftlichen Frieden bedroht: strukturelle Ungleichheit, soziale Spaltung und die fortschreitende Entsolidarisierung.

Das Ausmaß und die Frequenz dessen, wie Themen wie Sicherheit, Religion, „Herkunft“ und Migration medial und diskursiv miteinander verknüpft werden, bedienen damit das auf Essentialisierung basierende Erklärungsmodell der Rechten. Medienethik, Verantwortung und die eigentliche Rolle der „vierten Gewalt“ als gesellschaftlicher Kontrollmechanismus geraten durchgängig in den Hintergrund.

Demnach haben mindestens seit 2015 rechte Akteure dankend Angebote wahrgenommen, sich in Reaktion auf islamistische und rechte Anschläge als Krisenexpert:innen zu inszenieren und gezielt Bedrohungsszenarien zu zeichnen.

Die kollektive Wahrnehmung  zu beeinflussen heißt zu bestimmen, was als normal und als angeblich massive Gefahr für die Sicherheit Deutschlands und des „Westens“ angesehen wird.  Dass rechte Akteure in Reaktion auf islamistische oder auch rechtsextreme Anschläge mittlerweile systematisch als „Stimmen“ der öffentlichen Debatte in den Mainstream geholt werden, ist empirisch belegt. Demnach haben mindestens seit 2015 rechte Akteure dankend Angebote wahrgenommen, sich in Reaktion auf islamistische und rechte Anschläge als Krisenexpert:innen zu inszenieren und gezielt Bedrohungsszenarien zu zeichnen. Auch in diesem Wahlkampf sind AfD-Politiker Dauergäste in deutschen Talkshows. Islamistische Anschläge wie jene in Solingen und Mannheim aus dem Jahr 2024 und der jüngste Anschlag in München werden von ihnen instrumentalisiert, um eine kollektive Gefährdung durch eine imaginierte Gruppe von „Muslimen“, von Migration und Flucht zu suggerieren, während rechtsextremer Terror entpolitisiert und als Randphänomen dargestellt wird. Betroffene und Opfer der Anschläge kommen indes in der öffentlichen Debatte kaum zu Wort. Die Diskurshoheit der Rechten zeigt sich im Framing des von einem AfD-Sympathisanten und Anhänger rechter Verschwörungsideologien begangenen Anschlags in Magdeburg im Dezember 2024, dessen Tatmotive kaum ein Thema der Debatte waren — sondern einzig und allein die Herkunft des mutmaßlichen Täters.

Der Erfolg dieses Framings steht exemplarisch dafür, wie aus der bürgerlichen „Mitte“ heraus ein Teufelskreis der Rassifizierung von Kriminalität und die Kriminalisierung der Rassifizierten geschaffen wurde. Gleichzeitig werden systematische Missstände wie Frauenfeindlichkeit, Homophobie und Antisemitismus externalisiert, indem sie als Probleme der „Anderen“, oder als etwas „Importiertes“ dargestellt werden.

Die kontinuierliche Aushöhlung des Asylrechts, Strafrechtsverschärfungen, die Legitimation, Leugnung und Trivialisierung von Polizeigewalt, der Sozialabbau und die Fortsetzung neoliberaler Ausbeutungsverhältnisse — all das verantworten auch jene Parteien der vermeintlich progressiven, linksliberalen Mitte.

Auch die bürgerlichen und „links der Union“ stehenden Parteien SPD und Grüne haben sowohl initiativ als auch reaktiv rechte Diskurse um innere Sicherheit und Identität aufgegriffen und damit zur Entstigmatisierung rechter Politik beigetragen — und sie teils sogar selbst als Regierungsverantwortliche umgesetzt. Die kontinuierliche Aushöhlung des Asylrechts, Strafrechtsverschärfungen, die Legitimation, Leugnung und Trivialisierung von Polizeigewalt, der Sozialabbau und die Fortsetzung neoliberaler Ausbeutungsverhältnisse — all das verantworten auch jene Parteien der vermeintlich progressiven, linksliberalen Mitte. Viele von denen, die heute Dammbrüche und Rechtsrucke seitens der CDU und AfD beklagen und protestieren, haben diese Entwicklungen über Jahrzehnte entweder stillschweigend hingenommen oder aktiv mitgetragen.

Man sollte also festhalten: Die Warnung vor dem „Rechtsruck“ und dem wiederkehrenden Faschismus ist Selbsttäuschung, strategisches Kalkül und ein Versuch der politischen Reinwaschung — während es nur eine Frage der Zeit ist, wann die bürgerliche Mitte im demokratischen, progressiven Gewand die nächsten Dammbrüche vollzieht.

Mina Jawad ist freie Autorin. Sie hinterfragt und überschreitet die konventionellen Grenzen akademischer, journalistischer und künstlerischer Beschränkungen.

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