Der blaue Tropfen

Ron Mieczkowski

Über „Der Held der See“ von Yukio Mishima

Yukio Mishima, Der Held der See, aus dem Japanischen übersetzt von Ursula Gräfe, Kein & Aber, Zürich/Berlin 2024

Ich glaube nicht, dass Bücher wirklich Hoffnung spenden können. Was sie allerdings ganz zweifellos können: uns zutiefst erschüttern. Die letzte solche Erschütterung trage ich seit zwei Wochen mit mir, Yukio Mishimas Der Held der See von 1963 (in der Neuübersetzung von Ursula Gräfe) hat sie mir beschert.

Der Roman schenkt uns eine Auftaktszene, die man nie wieder vergisst  – sie schöpft aus den psychologischen Untiefen der Kindheit, des Begehrens und der verdrängten Begierden: Der junge Noboru, der ohne Vater aufwächst, hat es sich zur Gewohnheit gemacht, seine Mutter abends durch ein Guckloch in dem Wandschrank zwischen ihren Zimmern zu beobachten. Als sie einen neuen Freund, einen Seefahrer, mit nach Hause bringt, wird der Junge Zeuge derselben Szene, die auch uns Lesern nie wieder aus dem Sinn geht. Im Schein des Abendlichts entkleiden sich die beiden Erwachsenen, stehen nackt voreinander, als „plötzlich…das tiefe Dröhnen eines Schiffshorns durch das offene Fenster“ dringt, der Seemann sich „mit einem Ruck“ zum Fenster dreht und aufs Meer hinausblickt.

In diesem doppelten Blick – dem verbotenen des Kindes auf seine nackte Mutter und ihren Freund, und dem des Seemanns von seiner nackten Freundin weg hinaus aufs Meer – steckt das ganze Drama des Romans. Er läuft auf eine Tragödie zu, die so furchtbar ist, dass auch Mishima sie nicht ausschreibt.

Was die Kinderaugen aufgewühlt hat, ist nicht der Anblick des verbotenen Bereichs der Nacktheit und des Sex, sondern Zeuge zu werden, dass es etwas Größeres geben kann als Sex: Hier die irdische, am Ende dreckige und banale Erotik, dort der Ruf der See.

Den englischen Titel des Romans soll Mishima selbst seinem Übersetzer vorgeschlagen haben: The Sailor Who Fell from Grace with the Sea. Außerhalb der Gnade zu stehen, das wissen wir, ist seit je die höchste der Strafen – sie ist Verrätern vorbehalten. Und einen Verrat begeht der Seemann Ryuji in den Augen Noborus, als er ein neues Leben an Land beginnt, um dessen Mutter zu heiraten. Wurde das kindliche Gespür dafür, was es heißt, Träume zu verraten, jemals grandioser ausgedrückt als hier?

„Ryuji hatte ihm alle möglichen Seemannsgeschichten erzählt, sodass sich der Junge ein Wissen über die Seefahrt angeeignet hatte, das kein anderer besaß. Aber das war es nicht, was Noboru wollte. Was er sich wirklich wünschte, war der blaue Tropfen, der zurückbleiben würde, sollte der Mann mitten in einer Geschichte aufspringen und wieder aufs Meer hinausfahren. Nur in diesem glitzernden blauen Tropfen existierte der Traum von Meer, Schiff und Reise.“

Der blaue Tropfen, der zurückbleibt: Dieses Buch ist so ein Tropfen. Selten hat ein Buch so geglitzert.

Ron Mieczkowski ist Contributing Editor von the Diasporist.

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