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Berlin Dispatch: Januar

Alexander Schnickmann

Im Berliner Winter kommt unser Autor Alexander Schnickmann von der Dating-App Grindr zur Freundschaft

A painting of two male figures standing in a street.
“There’s something about the village idiot” (2022) © Michael Taylor

Hungry, horny, tired, sage ich, wenn mich jemand fragt, wie es mir geht. In diesen Wochen kommt die Kälte hinzu. Von Oktober bis Mai ist mir kalt, das muss das Alter sein, oder allgemeine Schwäche, in jedem Fall aber die viel zu kalte U-Bahn, der ungeheizte Lesesaal der Bibliothek, meine zugige Wohnung. Und die allgemeine Dunkelheit, die den Berlinwinter erst so richtig furchtbar macht. Glaube, heute ist die Sonne gar nicht aufgegangen, schreibe ich an einen Freund in Paris, der eine Stunde mehr Tageslicht bekommt als ich, dafür aber trotzdem friert.

Um zu wissen, wann der Berlinwinter ansteht, brauche ich keinen Wetterbericht. Ich öffne einfach Grindr. Kaum, dass die ersten Blätter gefallen sind und die Nächte am Landwehrkanal etwas ungemütlicher werden, entdeckt man dort eine plötzliche romantische Sehnsucht, ausgerechnet auf der Datingapp, die sonst eher für ihre spontanen Verbindungen bekannt ist. LTR, alle wollen LTR, was zwar für long-term relationship steht, vor allem aber über den Winter halten soll, wenn es einfach keinen Spaß macht, für ein Date bis nach Friedrichshain zu fahren.

Freunde ghosten dich nicht, weil sie hübschere Freunde gefunden haben, oder weil ihnen diese Freundschaft ein bisschen zu viel geworden ist, weil eigentlich suchen sie ja gar keine Freundschaft, sondern mehr so was auf casual.

Ich finde das beruhigend. Die bürgerliche Kernfamilie, sie lebt noch, wenn auch nur für ein paar Monate. Brat summer is over, looking for someone to cuddle, lese ich, und kann die Zimtduftkerze im Wohnzimmer riechen, eine Fleecedecke um die Schultern, den Laptop auf dem Schoß, es läuft Sopranos oder The Real Housewives of Beverly Hills, und ich schütte etwas mehr Rum als nötig in meinen Kakao. Wir können uns das häusliche Leben anziehen wie ein Kostüm, oder eher wie einen besonders flauschigen Pyjama.

Zugegeben, ich habe diese Dating-Hibernation bislang nie mitgemacht. Ich bin der sorgenvolle Beobachter am Rand, beziehungsweise unter der Decke, sehr nah an der Heizung. In dieser Funktion möchte ich keine Tipps geben, sondern ein Lob aussprechen, das Lob der Freundschaft. Freunde sind klasse. Wenn du krank bist, fahren sie für dich durch die ganze Stadt, sogar bis nach Friedrichshain, bringen dir Hühnersuppe und kochen dir Tee, und dafür musst du nicht einmal mit ihnen schlafen. Freunde ghosten dich nicht, weil sie hübschere Freunde gefunden haben, oder weil ihnen diese Freundschaft ein bisschen zu viel geworden ist, weil eigentlich suchen sie ja gar keine Freundschaft, sondern mehr so was auf casual. Sie sind einfach da.

Ein Freund, der mich schon viele Jahre begleitet, ist ein sechs Seiten langer Text in einem Suhrkamp-Bändchen. Ein Interview mit Michel Foucault, das 1981 in der Zeitschrift Gai pied erschienen ist, und auf Deutsch „Freundschaft als Lebensform“ heißt. Ich glaube, jede queere Person kennt Texte, die ihr helfen, ihre sogenannte „Identität“ zu verstehen, und neben Bette Midlers My Knight in Black Leather, ist das für mich dieses kleine Interview. Darin stellt sich Foucault die nicht ganz einfache Frage, wie schwule Männer eigentlich zusammenleben können. Als Freunde schaffen sie den eigentlichen Skandal der Homosexualität: „Nicht dass es zu sexuellen Handlungen kommt, die nicht dem Gesetz oder der Natur entsprechen, beunruhigt die Leute, sondern dass diese Menschen beginnen, einander zu lieben.“

Ich bin ein großer Freund der Beunruhigung. Vielleicht brauchen wir mehr als Selfcare und individuelle Lust, um durch den Berlinwinter zu kommen. Und vielleicht schaffen wir es, dass unsere Freundschaften auch noch halten, wenn es draußen warm und hell ist. Vielleicht macht uns die Sorge für andere noch hotter, als wir es ohnehin schon sind. Diesen Winter ganz bestimmt. Wie geht’s dir eigentlich so, schreibe ich meinem Pariser Freund, und freue mich auf seine Antwort.

Alexander Schnickmann ist Schriftsteller und lebt in Berlin. Er schreibt Lyrik, Prosa und Essays. An dieser Stelle schickt er von nun an Feuilletons aus Berlin: “Berlin Dispatch.”

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