Berlin Dispatch: Gespenster

Alexander Schnickmann

Unser Autor teilt das Schicksal von vielen: Er wird heimgesucht von seinem Vermieter. Zeit, dem Spuk ein Ende zu machen

Ghostly Vision – Francisco de Goya

IN MEINER WOHNUNG ist wieder was kaputt. Diesmal die Wasserleitung, ich habe keine Ahnung, wo oder warum – ein verborgenes Rädchen muss ausgetauscht werden, ein Kleinod aus Edelstahl oder Aluminium, irgendwo hinter Rohren und Beton. Im Internet sehe ich mir Bilder des Metallteils an. Nichts scheint mir einfacher, als auf Bestellen zu klicken und das Teil mit einigen magischen Handgriffen in meiner Wand verschwinden zu lassen. Das Wasser sprudelt hervor, klar und hell. Aber, selbst wenn ich das Talent zu derlei Zaubertricks hätte, es wäre ja doch umsonst, ich halte mich hier nur auf, und die Wände, die ich einschlagen will, gehören mir nicht. Mein Leben ist ein vermitteltes Leben, zwischen mir und meinem Glück steht ein Vermieter.

Hat mein Vermieter ein Herz? Ich bin mir nicht sicher. Ich weiß nicht einmal, ob es ihn wirklich gibt. Mein Vermieter ist ein großes Schweigen: die unbeantwortete E-Mail, die Mailboxansage ohne Mailboxfunktion, die andächtige Stille zwischen jedem Freizeichen. Sein Name steht auf Briefen, die ich nicht verstehe, und im Internet, wenn ich wieder versuche, ihn zu googlen, ihm ein Gesicht zu geben, einen Körper, eine Form. Die großen Fragen meines Lebens lauten: Wer ist dieser Mann, der meine Wasserleitung nicht reparieren lässt? Woher nimmt er die unheimliche Macht, die er über mich ausübt? Werde ich ihm jemals entkommen?

Ob mein Vermieter wohl weiß, dass ich an ihn denke, frage ich mich in der Nacht in wachsender Verzweiflung, ob er weiß, was er mir bedeutet?

Die Lage ist unklar, nur sein Schweigen ist gewiss. Ich schreibe Emails und ich spreche auf Bänder, ich starre auf mein Handy, vielleicht ruft er an, vielleicht steht der Handwerker schon vor der Tür, jetzt in diesem Augenblick, ich kann ihn schon klopfen hören. Ich erniedrige mich, aber völlig umsonst, er ruft nicht an, niemand klopft, if he wanted to, he would. Ob mein Vermieter wohl weiß, dass ich an ihn denke, frage ich mich in der Nacht in wachsender Verzweiflung, ob er weiß, was er mir bedeutet?

Ich blicke in die lange Tradition der Vermieterbeschimpfung und finde Trost bei Léon Bloy. „Jesus Christus ist nicht für die Bourgeoisie gestorben“, schreibt er in einem Brief vom April 1908. „Für jeden Mörder, für jeden Unzüchtigen, aber nicht für die Hausbesitzer!!!“ In Bloys Tagebuch und Briefen verschmelzen die vielen Vermieter, denen der verarmte Schriftsteller und seine Familie zum Opfer fallen, zu einem einzigen, zu einer ständigen existenziellen Bedrohung: Was ist, wenn wir auf der Straße landen?

Mein Hausbesitzer ist ein Gespenst, lese ich in Bloys Tagebuch, und plötzlich ergibt alles Sinn. Der Wasserschaden, die Risse im Putz, das unheimliche Knacken und Klopfen aus der Wand: Schon bevor irgendetwas kaputtgeht, fürchte ich mich, denn ich weiß, welche Nerven es kosten wird, bis die Sache repariert ist. Wenn sich überhaupt jemand darum kümmert. Auf Zehenspitzen tapse ich durch meine Wohnung, um nichts zu berühren, den Wasserhahn nur sehr zart anzustellen, bloß nicht an der Balkontür reißen, und, um Gotteswillen, vergiss das Lüften nicht.

Berlin hat einen Kollektivspuk, und auf jeder Party, in jeder Raucherecke oder drückendem Schweigen sind die Worte »Uff also mein Vermieter…« eine wahre Zauberformel

Meine Wohnung ist unheimlich geworden, voller versteckter Gefahren und potenzieller Katastrophen, ein Geisterschloss, ein verfluchter Ort, an dem mein Vermieter herumspukt und mich verlässlich in den Wahnsinn treibt. Doch zum Glück leide ich diese Schrecken nicht allein.

Berlin hat einen Kollektivspuk, und auf jeder Party, in jeder Raucherecke oder drückendem Schweigen sind die Worte »Uff also mein Vermieter…« eine wahre Zauberformel, plötzlich fließen die Gespräche, plötzlich entsteht ein großes, warmes geteiltes Leid, eine sonderbare Verbindung, vielleicht Solidarität, die Interessengemeinschaft Berliner Poltergeistbetroffener, oder einfach der Mieterverein. Die ominöse Hausverwaltung, die Aktiengesellschaft und Vermögensverwaltung, die abwesende Stimme: Wie Scooby Doo ziehen wir ihr die Maske herunter und der Spuk hat ein Ende.

Ich will mir den Vermieter als Menschen vorstellen. Das hebt den Widerspruch zwischen uns nicht auf. Aber es hilft mit der Verzweiflung. Es gibt dem Elend ein Gesicht, einen Körper, eine Form und einen Namen. Und vielleicht sogar, irgendwo, ein Herz.

Alexander Schnickmann ist Schriftsteller und lebt in Berlin. Er schreibt Lyrik, Prosa und Essays. An dieser Stelle schickt er von nun an Feuilletons aus Berlin: “Berlin Dispatch.”

Weitere Artikel von diesem Autor

Related articles

Newsletter abonnieren

Melde dich für den Newsletter von the Diasporist an, um aktuelle Informationen aus dem Magazin und eine exklusive Vorschau auf unsere Inhalte zu erhalten.